Künstler | Nicolas Godin | |
Album | Concrete & Glass | |
Label | Because Music | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Einerseits bietet Concrete & Glass ein großes Maß an Verlässlichkeit: Wenn Nicolas Godin, eine Hälfte von Air, zu den Instrumenten greift, dann klingt das ruhig, verträumt, entspannt, edel und ein bisschen spacig. Das gilt auch für die zehn Songs, die hier versammelt und durchweg gemeinsam mit Pierre Rousseau entstanden sind. Andererseits ist es höchst überraschend, wie unterschiedlich die Einflüsse sein können, die der mittlerweile mehr als 50-Jährige für diese Sounds findet. Auf den Platten von Air gehören manchmal düstere Rock-Elemente dazu, sein erstes Soloalbum Contrepoint (2015) war hingegen von Johann Sebastian Bach inspiriert. Für Concrete & Glass ist der wichtigste Bezugspunkt noch ungewöhnlicher: Es geht um architektonische Meilensteine in Los Angeles, Barcelona, Moskau, Marseille und an weiteren Orten, jeder Track ist einem davon gewidmet.
Dieses Leitthema der Platte wird etwas weniger überraschend, wenn man weiß, dass Nicolas Godin 1995, also drei Jahre vor dem Durchbruch seiner Band mit Moon Safari, selbst ein Architekturstudium abgeschlossen hat. Vollends schlüssig wird die Idee angesichts der kompletten Entstehungsgeschichte der Platte. Der Künstler Xavier Veilhan überreichte ihm vor einiger Zeit eine Liste mit den Namen von ein paar der größten Architekten aller Zeiten: Richard Neutra, John Lautner, Mies van der Rohe, Claude Parent, Konstantin Melnikov, Pierre Koenig und Le Corbusier fanden sich darauf. „Xavier wollte, dass ich mich mit einzelnen Stücken vor jedem dieser Architekten verneige, also jeweils eine Art Hommage komponiere. Diese Resultate sollten dann in situ, also direkt vor einigen ihrer wichtigsten Bauten rund um den Globus über ein Display zu hören sein“, erzählt Godin. Dieses Konzept setzten sie auch tatsächlich um, die ersten Bestandteile dieser Platte waren zunächst somit quasi einmalige Installationen. „Als ich dann nach Paris zurückkam, wurde mir schon sehr bald klar, dass ich diesen Weg noch weiter gehen wollte. Ich spürte, wie in mir ganz langsam dieser Gedanke entstand: Die Idee, jede dieser Kompositionen in komplette Songs umzuwandeln und sie dann zu einem Ganzen, zu einem Album zusammenzufügen. So entstand also Concrete & Glass“, so Godin.
Der Titelsong eröffnet die Platte, klingt dabei aber, als würde sie schon seit 30 Minuten laufen: Man ist sofort, ohne Abtasten oder Umwege, inmitten dieser sehr eigenen Ästhetik, in der elektronische Musik mit analogen Instrumenten gemacht wird, bis nach zweieinhalb Minuten dann auch die für Godin typische Computerstimme erklingt und die Zeilen „I’m looking for a house / made of concrete and glass“ (die es dann auch auf Französisch gibt) artikuliert. The Border ist mit seinem Ambient-Beat ebenfalls prototypisch für seinen Sound und hätte problemlos auch auf ein Album von Air gepasst. Turn Right, Turn Left zeigt, dass es auch das Verdienst von Nicolas Godin ist, dass man bei schlüpfrigem Bass, sanftem Beat und synthetischen Streichern nicht mehr zwangsläufig an Softpornos denken muss. In What Makes Me Think About You werden tatsächlich die Namen diverser Architekten aufgezählt, der Sound dazu ist lupenreines Easy Listening, wieder mit Vocoder-Stimme sowie Beats und Percussions, die nicht aus dem Rechner, sondern von echten Instrumenten zu kommen scheinen und dieser Musik auch dadurch ihre besondere Klasse verleihen.
„Zunächst einmal konnte ich mich auf die DNA der einzelnen Gebäude beziehen, denn darin steckten schon sehr viele Informationen, die man in Musik übersetzen konnte: Die Location zum Beispiel, die Landschaft drum herum, in der das Objekt stand… dann natürlich die Materialien wie zum Beispiel Beton oder Glas oder auch die Rolle, die ein Gebäude in der Menschheitsgeschichte oder der Populärkultur gespielt hat – und so weiter, und so fort“, sagt der Künstler zu seiner Herangehensweise. Besonders unmittelbar hat er diesen Ansatz für Cité Radieuse umgesetzt, das den Abschluss von Concrete & Glass bildet. „Für den Song habe ich Le Corbusiers erste Unité d’Habitation in Marseille genommen und seinen Tetris-artigen Aufbau in Musik umgewandelt. Die Ebenen sind ineinandergefügt, jede ist mit der darüber liegenden verschränkt, bis sich alles zur Dachterrasse mit ihrem Blick übers Mittelmeer hin öffnet. Ein derartiges Bild in Musik zu übersetzen, ist im Grunde genommen ganz ähnlich wie das Schreiben eines Filmsoundtracks“, sagt Godin, der mit A Very Secret Service zuletzt tatsächlich Filmmusik abgeliefert hatte. In diesem Fall klingt der instrumentale Track wie aus einem Science-Fiction-Film aus den Sixties und zeigt, dass er nicht nur Klangtüftler ist, sondern Komponist.
Eine zusätzliche Ebene (oder soll man in diesem Kontext besser sagen: eine zweite Etage?) bekommen diese Stücke natürlich, wenn eine weitere Konstante im Schaffen dieses Künstlers zu beobachten ist, nämlich die Zusammenarbeit mit Gästen. Bei Back To Your Heart ist das die aus Moskau stammende Kate NV (bürgerlich Yekaterina Shilonosova), deren Gesang viel Eleganz ausstrahlt und damit offensichtlich die Instrumente dazu motiviert, unbedingt beweisen zu wollen, dass sie dieses Metier auch beherrschen. Das reduzierte We Forgot Love wird auch durch die Stimme von Kadhja Bonet so geheimnisvoll: Irgendwo im Hintergrund dieses Songs scheint eine Bedrohung zu lauern. Der Australier Kirin J. Callinan ist bei Time On My Hands dabei, der Bass ist in diesem Track besonders prominent, der Rest so gelassen, dass man als Urheber des ziemlich überaschenden Gitarrensolos beinahe Mark Knopfler vermuten könnte (auch wenn es mutmaßlich ebenfalls von Callinan stammt).
Das verspielte The Foundation wird auch dank des Beitrags von Cola Boyy (bürgerlich: Matthew Urango) funky und zugleich mellow, der bekannteste Gaststar meldet sich in Catch Yourself Falling unverkennbar zu Wort: Alexis Taylor. Natürlich klingt alles, was mit seiner Stimme vorgetragen wird, automatisch nach Hot Chip, auch die dazu gehörige Musik wäre (in einem ihrer besonders niedlichen Momente) von der Band aus London vorstellbar.
Natürlich bekommt Concrete & Glass angesichts seines Konzepts zwangsläufig in einigen Momenten den Charakter eines Samplers oder von Fingerübungen. Man hört aber dennoch, wie viel Herzblut und Inspiration von Nicolas Godin in dieser Platte geflossen sind, und wie sehr er die Umsetzung dieser Idee genossen hat: „Ein grandioser Trip um den Globus.“