Künstler*in | Niels Frevert | |
Album | Pseudopoesie | |
Label | Grönland | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung |
Es war nur eine kleine Verschiebung, aber irgendetwas ist damals passiert, noch vor der Pandemie. Er sei „eigentlich auch ein ganz normaler ‚Alle dreieinhalb Jahre ein neues Album‘-Typ“, sagt Niels Frevert von sich. Für seinen letzten Longplayer Putzlicht allerdings ließ er sich fünf Jahre Zeit. Und das hat etwas mit seiner Musik gemacht. Wirkte es vorher, als spiele er seine Lieder für sich im stillen Kämmerlein, konnte man beim 2019er Album den Eindruck haben: Er ist raus auf den Balkon gegangen. Er will, dass diese Lieder den Weg zu den Menschen finden, vielleicht sogar diese Menschen den Weg zu ihm. Es ist eine subtile Veränderung, die sich auf dem heute erscheinenden Pseudopoesie verstetigt.
Es gibt auf dem siebten Soloalbum des ehemaligen Frontmanns von Nationalgalerie wiederum Lieder, die eingängig und sogar tanzbar sind wie Kristallpalast, in dem klar wird, wie gerne wir uns selbst darstellen und in Spiegeln anschauen, aber wie wenig reflektiert wir dennoch sind. Den dezenten und höchst geschmackvollen Groove von Fremd in der Welt, das davon erzählt, wie das Leben sich manchmal wie eine Zirkusvorstellung anfühlt, könnte man sich gut von Phoenix vorstellen. Und die Melodie von Waschbeckenrand, in dem das für diese Platte sehr typische Gefühl artikuliert wird, dass dies nicht der richtige Ort ist, dass eine Flucht lockt und irgendwo ein besseres Leben wartet, ist so melancholisch-glorios wie man das beispielsweise bei Travis erleben kann.
All das wäre in seinem Prä-Putzlicht-Oeuvre höchst erstaunlich gewesen, zugleich gibt es auch anno 2023 wieder kleine Veränderungen in den Koordinaten des Albums. Produziert hat diesmal Tim Tautorat (Faber, Provinz, Tristan Brusch), zudem konnte Niels Frevert erstmals zwei Platten in Folge mit denselben Musikern aufnehmen, nämlich der Besetzung, die schon auf der letzten Tour dabei war und auch die anstehenden Konzerte begleiten wird. Nicht zuletzt ging diesmal alles sehr flott: In sechs Wochen war Pseudopoesie im Kasten, alle Werke seit seinem Solo-Debüt 1997 hatten deutlich länger gebraucht.
Die Single Weite Landschaft eröffnet die Platte mit getragenen Klavierklängen, zu denen sich dann aber bald ein nervöser Beat und tolle Streicher gesellen. Der Text erzählt mit irritierende Bildern davon, wie Kultur hier nicht zum Merkmal des Fortschritts wird, sondern zur Methode der Zerstörung. Die Natur in dieser (ehemals) weiten Landschaft wird abgebrannt und zubetoniert – und damit wird einer dieser Orte geschaffen, an denen die Lieder von Niels Frevert spielen, und aus denen seine Protagonist*innen so gerne heraus wollen.
Träume hören nicht auf bei Tagesanbruch setzt das mit einer tollen Dramaturgie um. Es geht um den ereignisarmen Alltag, den grauen Stadtrand, die „Sehnsucht nach der Sehnsucht“ und den heimlichen Neid auf alles, was sich aus diesem trostlosen Hier und Jetzt wegbewegen kann: Wolken, Züge, Gänse auf dem Weg in den Süden, „nur weg von hier, es ist überall anders besser“. Rachmaninow stellt ebenfalls das Unterwegssein in den Mittelpunkt, mit Weltschmerz als Begleiter, vielleicht sogar als Treibstoff. „Nimm mich mit, Pseudopoet“, heißt die Zeile im Titelsong, in dem sich der 55-Jährige als „ein Dichter, der nicht ganz dicht ist“ charakterisiert. Auch dieses Lied zeigt: Das ist längst kein Sound mehr aus dem Singer-Songwriter-Elfenbeintrum, sondern eigentlich Rock, treibend, aufgewühlt, zur Verbrüderung aufrufend, vielleicht nicht gleich wie bei Bruce Springsteen, aber wie bei Kettcar.
Textlich gibt es ohnehin niemanden in Deutschland, der ihm im Talent, das Bewegende im Alltäglichen in Poesie zu gießen, etwas vormachen könnte. Tamburin zeigt, dass große Gefühle auch in kleinen Momenten erkennbar sein und mit größter Gelassenheit besungen werden können. Das reduzierte Klappern von Geschirr ist ebenfalls exemplarisch für seine Lyrik: Man versteht intuitiv jedes einzelne Bild, auch wenn man nicht unbedingt rational beantworten kann, warum nun ausgerechnet diese Bilder für den Text ausgewählt wurden. Auch der nostalgische Album-Abschluss Ende 17 ist ein weiteres Beispiel dafür: Frevert vermittelt, mit der Atmosphäre und dem Text, zwar keine Antwort auf die Frage, worum es genau geht, aber eine Ahnung davon. Er packt in seine Lieder genug Anhaltspunkte, damit man sich darin wiederfinden kann, und genug Geheimnis, um das spannend zu machen – und sogar einzigartig.