Autor | Niklas Natt och Dag | |
Titel | 1793 | |
Verlag | Piper | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Zählt man Daniel Kehlmanns Tyll und Ken Folletts Das Fundament der Ewigkeit als solche, dann waren in der Spiegel-Belletristik-Bestsellerliste des vergangenen Jahres zwei der fünf erfolgreichsten Werke historische Romane. Man darf also einen cleveren Schachzug vermuten, wenn ein Autor für sein Debüt ebenfalls dieses Genre wählt – und es noch dazu mit der ebenfalls hochgradig populären Gattung „Schwedenkrimi“ kombiniert. In der Tat ist 1793 von Niklas Natt och Dag ein enormer Verkaufserfolg geworden, sowohl in der Heimat des Schriftstellers, der einem alten schwedischen Adelsgeschlecht entstammt, als auch hierzulande. Das hat aber keineswegs nur mit geschickter Wahl seines Sujets und Genres zu tun. Vielmehr liefert der 1979 geborene Autor hier einen sehr packenden und filigran konstruierten Krimi, der in einer spannenden Zeit des Umbruchs spielt und nichts für zartbesaitete Gemüter ist.
Am Beginn steht eine Leiche. Sie wird im Jahr 1793 in einer Stockholmer Kloake gefunden, hat keine Arme, keine Beine, auch keine Augen, Zunge oder Zähne. Der Jurist Cecile Winge soll sich der Sache annehmen und zunächst die Identität des Toten herausfinden, dann möglichst auch den Täter zur Rechenschaft ziehen. Winge übernimmt für die Stockholmer Polizei stets die besonderen Fälle, wohl auch, weil er bei den anderen Ermittlern selbst als Exot mit einem dubiosen Hintergrund gilt: Er wurde von seiner Frau verlassen, ist hochgradig tuberkulös und vor allem viel zu fortschrittlich für seine Zeit. Ihm zur Seite steht Mickel Cardell, ein ehemaliger Soldat, der im Krieg seinen Glauben an die Menschheit und dazu einen Arm verloren hat und nun mit Holzprothese bei der Stadtwache in Lohn und Brot steht.
Wie präzise und geduldig Niklas Natt och Dag diese beiden (und weitere) Figuren zeichnet, ist eine der Stärken des Romans. Eine andere ist seine enorme Rechercheleistung: Aus vielen Seiten springt einem die tagelange Arbeit in Archiven förmlich entgegen. Beides zusammen trägt dazu bei, dass man bald ein sehr lebendiges und wohl auch authentisches Bild der schwedischen Hauptstadt im Jahr 1793 vor sich hat. Suff, Armut und Brutalität prägen den persönlichen Alltag, auf gesellschaftlicher Ebene bahnt sich eine Zeitenwende an: Die Erschütterungen der französischen Revolution erreichen langsam auch den hohen Norden, König Gustav befürchtet minütlich ein Attentat, die Pfarrer trauern der naiven Frömmigkeit ihrer Schäfchen in einstigen Zeiten nach und mit den Manufakturen, in denen Hunderte unter elenden Bedingungen schuften müssen, sind auch erste Vorboten der Industrialisierung zu erkennen.
Der Roman lebt davon, dass er zwei Figuren in den Mittelpunkt stellt, die auf ihre Weise jeweils Außenseiter in dieser Zeit sind. Winge, der gerne Rousseau liest, ist fast zu hellsichtig für seine Welt, auch beim Blick auf seinen fragilen Gesundheitszustand („Winge steuerte auf den Tod zu. Mit demselben Kompass, der ihm bereits sein Leben lang den Weg gewiesen hat: der Vernunft“). Mickel ist gefangen in den Zwängen des Alltags, sorgt sich eher um seine nächste Mahlzeit (die möglichst mit einem alkoholischen Getränk verbunden sein sollte) als um philosophische Fragen. Dieser Kontrast trägt zur Vielschichtigkeit von 1793 bei, ebenso wie viele weitere reizvolle Figuren, die in den vier Teilen des Romans (einer davon ist komplett in Briefform) verwoben werden.
Es geht um Wappen und Inzest, Glücksspiel und Prostitution, Korruption und Machtmissbrauch. Arne Dahl hat das Ergebnis gelobt als „ein Meisterwerk. Ein wilder und ungewöhnlicher Mix, der das ganze Krimigenre revolutioniert.“ In manchen Passagen ist der Roman nichts weniger als schockierend in seiner Schilderung von Menschenverachtung und Überlebenskampf. Wie die Kloake, in der zu Beginn des Buchs die Leiche gefunden wird, erscheint hier in vielen Momenten auch die menschliche Psyche mit all ihren Abgründen.
Bestes Zitat: „Niemand wird zum Täter ohne nicht selbst zuvor Opfer gewesen zu sein.“