Künstler*in | Noel Gallagher’s High Flying Birds | |
Album | Council Skies | |
Label | Sour Mash | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung | Foto oben: (C) RSK PR / Matt Crockett |
Noel Gallagher ist nicht unbedingt als großer Poet bekannt geworden. Insbesondere verweigert er sich, obwohl er seit fast 30 Jahren ein mehr als erfolgreicher Songwriter ist, dem üblichen Vorgehen, in seinen Texten aus seinem Leben zu berichten. Man findet in seinen Liedern stattdessen Verweise auf Lasagne (Digsy’s Diner, 1994), Pickel (She’s Electric, 1995), Kopfschmerzmittel (Supersonic, 1994), schmutzige Oberbekleidung (The Girl In The Dirty Shirt, 1997) oder seltsame Zähne (Freaky Teeth, 2015). Oft genug begibt er sich auch einfach ins Reich des Absurden. Als Höhepunkt seines lyrischen Schaffens betrachten viele die legendären Verse “Slowly walking down the hall / faster than a cannonball” aus dem Oasis-Klassiker Champagne Supernova.
Selbst die tausendfach besungene Sally aus der ebenfalls 1995 veröffentlichten Hymne Don’t Look Back In Anger hat wohl keinen autobiographischen Hintergrund. Auf die Frage, wer diese Frau ist, hat Noel Gallagher bisher stets mit Aussagen wie „Ich habe keine Ahnung“, „Es spielt keine Rolle“ oder „Ich kann mich nicht erinnern“ geantwortet. Zuletzt spekulierte er in der BBC-Sendung First And Last, er habe den Namen vielleicht in einem Striplokal aufgeschnappt, das er auf Tour besucht hatte, aber auch da sei er sich nicht sicher.
„Ich will auf keinen Fall mein Herz ausschütten. Für mich sind Texte eine ständige Grauzone, und ich weiß nie, worum es darin eigentlich geht. Ich bin ein lockerer Typ und eigentlich nie mies drauf, aber ich kann niemals irgendjemanden in meine Welt hineinlassen“, hat er 1996 gesagt, und daran hat sich seitdem auch ziemlich wenig geändert. Bis jetzt. Council Skies, das vierte Album von Noel Gallagher’s High Flying Birds, ist autobiographisch. Zumindest auf den ersten Blick und in der Selbstvermarktung. „Es ist eine Rückkehr zu meinen Anfängen. Tagträumen, in den Himmel schauen und sich fragen, wie das Leben sein könnte … das ist für mich heute noch genauso wahr wie in den frühen 90ern“, sagt der 56-Jährige zur Veröffentlichung. „Als ich in Armut und Arbeitslosigkeit aufwuchs, holte mich die Musik aus dieser Situation heraus. Top Of The Pops im Fernsehen verwandelte den Donnerstagabend in eine Fantasiewelt, und genau das sollte Musik meiner Meinung nach auch sein. Ich möchte, dass meine Musik in gewisser Weise erhebend und transformierend wirkt.“
Unterstützt wird die Message vom Rückblick auf die eigene Biographie durch das Artwork des ebenfalls aus Manchester stammenden Fotografen Kevin Cummins. Er zeigt in Schwarzweißbildern wichtige Stationen aus dem Leben von Noel Gallagher. Man sieht im Booklet die Burnage Lane, in der er aufgewachsen ist, den Plattenladen von Mr. Sifters in der Nachbarschaft, den Oasis schon in Shakermaker besungen hatten, und den Piccadilly-Bahnhof von Manchester, von dem aus Noel Gallagher seine Heimatstadt einst in Richtung London verließ. Das Albumcover zeigt die Instrumente der High Flying Birds an dem Punkt, wo einst der Anstoßkreis des Maine-Road-Stadions von Manchester City war – in der 2003 abgerissenen Arena hat der Musiker nicht nur etliche Spiele seines heiß verehrten Lieblingsvereins verfolgt, sondern 1996 auch triumphale Konzerte mit Oasis gespielt.
Ein Blick auf die Texte von Council Skies lässt indes schnell erkennen: Das Album ist nicht autobiographisch, aber es gibt – wohl erstmals in der Karriere dieses Mannes, der zwölf Nummer-1-Alben im UK vorzuweisen hat – tatsächlich so etwas wie einen roten Faden. Die zehn Lieder durchströmt eine beträchtliche Nostalgie, ein Betrauern von Dingen, die nie mehr zurückkommen werden, und Erlebnissen, die sich nicht wiederholen lassen. Es gibt wenig Aufregung und Punch, dafür viel Elder-Statesman-Souveränität und durchaus auch etwas Gemütlichkeit. Das Meiste ist eher beeindruckend statt begeisternd, so fehlen diesmal neben Tempo auch ein paar der besonders gloriosen Melodien, von denen uns dieser Songwriter schon so viele geschenkt hat.
So eröffnet I’m Not Giving Up Tonight sehr entspannt das Album, es ist weit entfernt davon, ein Ausrufezeichen zu sein, bis die traumhaften Streicher ertönen, die mit dem Refrain einsetzen. Hinter einem großspurigen Titel wie Trying To Find A World That’s Been And Gone (Part 1) steckt später einfach eine weitere, sehr hübsche Noel-Gallagher-Ballade, Easy Now ist höchste Songwriting-Kunst mit Chor, Streichern (allesamt in den Abbey Road Studios eingespielt, während der Rest von Council Skies in Noels eigenen Lone Star Sound Recording Studios in London aufgenommen wurde) und Gitarrensolo, irgendwo zwischen Burt Bacharach und Jeff Lynne.
There She Blows! steckt nicht nur in Titel und Text voller Anspielungen und Zitate auf die Popgeschichte, Love Is A Rich Man bekommt wie viele Songs der Platte eine schöne Balance aus erstaunlicher Unmittelbarkeit, unverkennbarer Lässigkeit und ein paar Experimenten (wie in diesem Fall der Mundharmonika) hin. „Let’s drink to the future / I hope it comes round again“, lautet der Appell in Think Of A Number, das eine von sehr vielen schönen Bass-Figuren als Fundament hat und darum ein spektakuläres und extrem stilsicheres Arrangement baut. We’re Gonna Get There In The End ist als Bonus Track der Platte so verdammt gut, dass man fast zwangsläufig in Versuchung gerät, sich vielleicht doch auch noch die Deluxe-Version von Council Skies zu kaufen.
Immer wieder verweist Noel Gallagher in diesen Songs auf Träume so groß wie der Himmel. Er thematisiert die Hoffnung auf Ruhm, Glück und Reichtum, die für ihn zu Beginn seiner Laufbahn so wahrscheinlich waren wie ein sonniger Sommer im Norden Englands. Und er besingt die Freuden des kleinen Mannes, einen Drink, einen Kuss, drei Minuten Glückseligkeit durch den richtigen Refrain aus dem Radio, der im genau richtigen Moment in dein Leben tritt. „You got the dreams of children / You got’cha eyes of gold / I hope you live to see them / before you get too old“, singt er in Pretty Boy (einem von drei Tracks, an denen The-Smiths-Legende Johnny Marr beteiligt ist), dazu gibt es einen elektronischen Beat, eine akustische Gitarrenfigur mit leicht psychedelischem Hauch als Basis, einen Refrain mit ein paar Krautrock-Referenzen und sogar ein bisschen Spiel mit Gender-Rollen.
„Life is unpredictable / you can win or lose it all / underneath the council sky / I found you“, heißt es im Titelsong zu einem originellen Beat und schönen Akzenten durch den Background-Gesang. Den Begriff „Council Skies“ (frei übersetzt: der Himmel über der Sozialbausiedlung) hat Noel Gallagher einem Buch des nordirischen Illustrators Pete McKee entnommen. Natürlich hält sich Gallagher von expliziten politischen Statements oder allzu viel Realismus fern, aber beispielsweise die Titelzeilen von Open The Door, See What You Find beweisen sein wieder einmal großartiges Talent, vermeintliche Blödsinns-Zeilen plötzlich sinnvoll und sogar bedeutend klingen zu lassen. Es geht – in diesem Lied und eigentlich in fast all seinen Songs – um den Glauben an die Kraft von Ambition und Ehrgeiz, auch ganz unabhängig vom eigenen Talent oder der Chance auf Verwirklichung. In seinen Liedern ist er der kleine Junge auf dem Bolzplatz, der daran glaubt, der nächste Messi oder Haaland werden zu können, und alleine diese Fantasie beflügelt ihn und treibt ihn an, es immer weiter zu versuchen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Open The Door, See What You Find hat dabei auch den nötigen Biss, um diese Botschaft zu unterstreichen.
Den vielleicht wichtigsten Hinweis für alle, die in den Texten von Noel Gallagher nach Hinweisen auf sein Innenleben suchen, gibt das hypnotische Dead To The World. Das Lied kombiniert die schönsten Streicher des Albums mit vielen vertrauten Noel-Elementen sowie einigen Überraschungen wie dem Akkordeon. Und es klärt zugleich auf und verwirrt wieder einmal mit den Zeilen: „Gonna write you a song / won’t take me long / you can change all the words / and still get them wrong.“