„Please, brother, take a chance.“ Die Zeile aus dem (auch an diesem Abend) erhebenden, wundervollen, sagenhaften The Masterplan war natürlich nie als eine Aufforderung an Liam Gallager gedacht, es doch noch einmal mit seinem Bruder zu versuchen und endlich eine Wiedervereinigung von Oasis in die Wege zu leiten. Als Noel Gallagher sie zum Abschluss seines phänomenalen Konzerts in der Berliner Max-Schmeling-Halle singt, ist das offensichtlicher denn je: Er kann auf den Bruder inzwischen gut verzichten. Diese Show ist so etwas wie seine ganz persönliche Unabhängigkeitserklärung.
Dazu trägt sein neues Selbstbewusstsein als Frontmann bei, das sich unter anderem darin äußert, dass Noel Gallagher’s High Flying Birds den Abend in Berlin mit einer B-Seite (Do The Damage) beginnen. Seine Stimme ist so gut wie nie; Poloshirt, Frisur und Skinny Jeans sitzen perfekt. Noel steht zwar etwas gekrümmt auf der Bühne (das Mikrofonstativ ist zu tief eingestellt, wie eine subtile Verballhornung von Liams Eigenheit, das stets zu hoch platzierte Mikrofon bevorzugt von unten anzuknabbern), aber wenn er beim Solo von Lock All The Doors die Gretsch-Gitarre nach oben reckt oder am Ende seine siebenköpfige Band vorstellt (inklusive drei Bläsern und mit Keyboarder Mike Rowe als heimlichem Zeremonienmeister), dann merkt man: Der Mann fühlt sich inzwischen verdammt wohl in der Mitte der Bühne.
Zur Souveränität (früher hätte man gesagt: zur Arroganz) gehört auch Noel Gallaghers bezaubernde Eigenschaft, erst nach fünf Liedern überhaupt etwas zu den Fans in der Max-Schmeling-Halle zu sagen und dann die paar Brocken des restlichen Dialogs mit dem Publikum so zu vernuscheln, dass man allenfalls ein gelegentliche Verwunderung über die Anwesenheit von Spice Girls, ein Lob auf Schottland oder eine selbstkritische Anmerkung zu In The Heat Of The Moment (die Lead-Single für das aktuelle Album schmäht Noel Gallagher in Berlin als seinen „least favorite track“ auf Chasing Yesterday) ausmachen kann.
Nicht zuletzt zeugt es von Selbstvertrauen, das Konzert weitgehend ohne Oasis-Klassiker zu bestreiten. Fünf Lieder seiner früheren Band sind zu hören, davon zwei B-Seiten (The Masterplan ist, wie erwähnt, grandios; Fade Away nähert sich live neuerdings der entspannten Version an, die Oasis einst mit Johnny Depp als Gastgitarristen eingespielt hatten) und ein eher unbekannter Albumtrack (in Digsy’s Dinner scheinen die High Flying Birds kurz selbst überwältigt zu sein von ihrer eigenen Wucht).
Die beiden anderen sind allerdings die unbestrittenen Höhepunkte des Konzerts. Als nach einer guten halben Stunde (und nach dem ebenfalls furiosen You Know We Can’t Go Back) ohne große Vorrede plötzlich Champagne Supernova erklingt, gibt es kein Halten mehr. In diesem Moment ist die Bewunderung für Noel Gallagher grenzenlos. Er könnte die rund 10.000 Fans in Berlin problemlos in den Krieg führen. Er könnte ihnen befehlen, all ihre Klamotten zu verbrennen, auf denen nicht das Wort „Oasis“ steht. Oder sie dazu bringen, einen Schwur zu leisten, dass sie für den Rest ihres Lebens nie mehr ein anderes Lied hören wollen als Champagne Supernova.
Genauso gut ist Don’t Look Back In Anger, die einzige Oasis-Single des Abend. Das Lied erklingt als erste Zugabe nach einer Pause, die genau lang genug ist, um die Fans fürchten zu lassen, Gallagher sr. komme nach dem Abschluss des regulären Sets mit If I Had A Gun vielleicht tatsächlich nicht noch einmal auf die Bühne. Als er es doch tut und dann den Mund für die Worte „Slip inside the eye of your mind“ öffnet, stehen (endlich) sogar die Fans auf den Tribünen an der Seite auf und tauschen ihren Sitzplatz gegen hemmungslose Euphorie.
Die erstaunlichsten Publikumsreaktionen sind aber andere: Die besten Lieder aus dem Solowerk werden genauso gefeiert wie die Oasis-Großtaten. Egal, ob Noel Gallagher Everybody’s On The Run spielt, The Death Of You And Me oder The Mexican: In jedem dieser Songs gibt es eine Zeile, in der jemand aufspringt, die Arme ausbreitet und aus vollem Leibe mitsingt, weil diese Zeile ihm alles bedeutet. Es gibt hier etliche Fans, die diese Lieder genauso sehr ins Herz geschlossen haben wie das Material von Definitely Maybe oder Morning Glory, und ein größeres Kompliment ist für Noel Gallagher’s High Flying Birds wohl kaum möglich.
Auch wenn auf der Bühne gelegentlich hübsche Projektionen von Kinderfotos oder Ozeanwellen gezeigt werden, bleibt der Blick auf die Fans das größere optische Entertainment in diesem Konzert. Da gibt es Flaggen aus Schottland, England und Russland sowie einen (vor dem Konzert durch den ganzen Innenraum) fliegenden Plüsch-Hund. Da gibt es den Mittvierziger, der nach einer Stunde schon so betrunken ist, dass er nicht mehr die Treppe zur Toilette hochkommt. Da ist ein ungefähr 18-Jähriger, der ein T-Shirt mit so stilecht ausgewaschenem alten Oasis-Logo trägt, dass es nur von seinem älteren Bruder (oder von Ebay) stammen kann. Da ist der Engländer Anfang 30, der vor Verzückung am Bierstand sein Wechselgeld vergisst, als er die ersten Takte von Ballad Of The Mighty I erkennt.
Und da sind, immer wieder, irre Szenen der Verbrüderung, wie man sie nur zu dieser Musik erleben kann. So viele wildfremde Männer, die sich im völligen Glückstaumel in den Armen gelegen haben, hat Berlin definitiv nicht einmal auf der Fanmeile gesehen. Manche von ihnen klettern auf die Schultern ihrer Kumpels, um Noel Gallagher besser sehen zu können, manche von ihnen stürzen dann herunter, wenn sie versuchen, auf den Schultern sitzend andere Fans zu umarmen. Doch sie stehen wieder auf. Und singen. Bei Dream On genauso wie bei Don’t Look Back In Anger.
Es ist vor allem die Begeisterung für die neuen Tracks, die erkennen lässt, welche Leistung Noel Gallagher da als 47-Jähriger vollbracht hat. Er hätte ganz bequem mit Oasis noch ein paar Tourneen für dieses unverkennbar treue Publikum spielen und einen fetten Reibach machen können. Doch er hat sich entschieden, seinen eigenen Weg zu gehen, ohne Liam, und dafür das Risiko des Misserfolgs und der Blamage in Kauf zu nehmen. Es hat bestens funktioniert. Wenn die Fans in Berlin in Champagne Supernova die legendäre Zeile „Where were you while we were getting high?“ singen, dann ist das nicht nur eine Frage, die die ältere Generation der Gallagher-Fans (Zeitzeugen der Oasis-Weltherrschaft) mit einem Hauch von Schadenfreude der jüngeren (nachgeborenen) Generation stellt. Es ist auch eine Frage, die man jedem stellen sollte, der dieses Konzert verpasst hat.
Klingt ziemlich großartig 🙂
Das war es. Dabei war ich wahrscheinlich der einzige Mann in der Halle, der nüchtern war.