Künstler | Oasis | |
DVD | Live By The Sea | |
Label | Big Brother Recordings | |
Erscheinungsjahr | 1995 | |
Bewertung |
„The 90’s start here“, lautet der letzte Satz auf der DVD-Hülle dieses Konzermitschnitts. Das erscheint erstaunlich, schließlich war die Hälfte des Jahrzehnts schon vorbei, als Oasis am 17. April 1995 live im Southend Cliffs Pavillion spielten. Falsch ist der Satz dennoch nicht: Das Gefühl einer Zeitenwende ist in Live By The Sea deutlich spürbar, und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
Das gilt erstens für die Technologie: Gut ein Vierteljahr nach dem Konzert erschien der Mitschnitt als Video, seit 2001 ist er auch als DVD verfügbar. Im Abspann wird für weitere Infos über Oasis noch auf die sehr nostalgische (und heute nicht mehr funktionierende) Webadresse cts.com/browse/ginger verwiesen, die offizielle Website www.oasisinet.com ging erst zwei Jahre später online. Auch wenn der obligatorische Schlusspunkt I Am The Walrus mit psychedelischen Kameraeffekten angereichert wird, wirkt das aus heutiger Sicht eher putzig. Es gilt zweitens für die Mode: Das Publikum ist beim Outfit und den üblichen Ritualen für ein Rockkonzert noch sichtlich von Grunge geprägt. So gibt es gleich beim ersten Song (Rock’N’Roll Star spielen Oasis viel zu schnell, als sitze ihnen der Teufel im Nacken) den ersten Crowdsurfer. Drittens gilt es für das Personal: Die Show war eines der letzten Konzerte von Oasis mit Schlagzeuger Tony McCarroll, der zwei Wochen später durch Alan White ersetzt wurde.
Vor allem aber gilt es für die Musikszene in Großbritannien. Live By The Sea – der Titel spielt auf eine Zeile in (It’s Good) To Be Free an – zeigt Oasis kurz vor dem Moment, als sie von einer Indie-Band mit Achtungserfolgen zu weltweiten Megastars wurden und die gesamte Popwelt auf den Kopf stellten. Eine Woche nach diesem Konzert würde mit Some Might Say, das hier bereits vertreten ist, die erste Single vom Morning Glory-Album erscheinen – jener Platte, die das erfolgreichste Album des Jahrzehnts in Großbritannien und der zentrale Baustein für Britpop und Cool Britannia werden sollte. Tatsächlich schob die Band im popkulturellen Bewusstsein mit dieser Platte die Achtziger endgültig zur Seite, ebenso wie die amerikanische Vorherrschaft in der Gitarrenmusik im Post-Nirvana-Zeitalter. Kalendarisch mag der Hinweis auf die in diesem Moment beginnenden Neunziger falsch sein, im Hinblick auf die Mentalität ist er zutreffend.
Die beiden wichtigsten Zutaten für den Siegeszug von Oasis sind in den 80 Minuten dieser Live-DVD (Regie führte Nigel Dick, der auch das im Bonusmaterial ebenfalls enthaltene Video zu Rock’N’Roll Star gedreht hatte) offensichtlich: Zum einen sind es tolle Songs, deren Klasse auch hier beispielsweise durch die Qualität der B-Seiten deutlich wird: Fast die Hälfte der Songs, die Oasis an diesem Abend spielen, ist nie auf einem Album oder als Single erschienen, dennoch gelingt ein perfekter Spannungsbogen mit vielen besonders euphorischen Momenten wie Cigarettes & Alcohol, in dem ein Security-Mann die Fans mit Wasser bespritzen muss, oder Live Forever, in dem Noel Gallaghers Stimme in den Berserker-Modus wechselt. Zum anderen ist es die Überzeugung der Band, tatsächlich die Welt aus den Angeln heben zu können, die hier auch vom bevorstehenden Abschied des Drummers nicht getrübt wird: Gitarrist Bonehead ist so cool wie immer, Bassist Guigsy weilt in seiner ganz eigenen Welt, in der es nicht allzu viele Noten gibt. Noel Gallagher gibt den Spiritus Rector und gönnt sich drei Songs alleine mit der zwölfsaitigen akustischen Gitarre. D’Yer Wanna Be A Spaceman bricht er kurzerhand ab, weil ihm der Text nicht mehr einfällt, am Ende des Akustik-Sets, das er mit den Worten „Sorry about that“ beschließt, bricht ein riesiger Lärm herein, den der auf die Bühne zurückgekehrte Rest der Band veranstaltet und der das göttliche Slide Away einläutet.
Liam Gallagher ist vergleichsweise aktiv. Die Hände behält er durchweg im Ärmel seines Sweaters, der ein wenig an die Kleidung eines entflohenen Sträflings erinnert – und so lange liegt die erfolgreiche Flucht der Gallaghers aus der Tristesse von Manchester ja auch noch gar nicht zurück. Gerade die Tatsache, dass er aber schon hier wie eine Ikone aussieht (und sich offensichtlich auch selbst so wahrnimmt), zeigt indes einen spannenden Effekt und ein weiteres Element für die Anziehungskraft dieser Band: Bezogen auf die eigentliche Show ist der vermeintliche Paradigmenwechseln in keiner Weise zu erkennen. Oasis sehen aus wie ein Jahr zuvor oder zehn Jahre später, ihr Verhalten auf der Bühne hat sich kaum verändert. Das zeigt nicht unbedingt, dass sie als Liveband und Performer besonders schnell oder besonders langsam gelernt hätten, sondern eher: Sie sind niemals Newcomer und niemals Veteranen gewesen, sondern immer Oasis. Schon bei den Konzerten in den Anfangstagen der Band standen sie auf der Bühne, als sei vor ihnen ein Stadionpublikum, als werde jeder Moment einmal für die Nachwelt bedeutend, als müssten nicht sie die Kasper für das Publikum spielen, sondern als sollten die Leute dankbar sein, dass sie dabei sein dürfen. Und so ist es ja auch – an diesem Tag im April 1995 vielleicht noch ein bisschen mehr.