Odd Beholder – „All Reality Is Virtual“

Künstler Odd Beholder

Odd Beholder All Reality Is Virtual Review Kritik
Selfies sind anstrengend und ungesund, legt nicht nur das Cover von „All Reality Is Virtual“ nahe.
Album All Reality Is Virtual
Label Sinnbus
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Gymnastik? Meditation? Die seltsame Position, in der Maude in The Big Lebowski versucht, die Chance auf eine Schwangerschaft nach dem Sex mit dem Dude zu erhöhen? Irgendetwas davon könnte die Stellung sein, in der Daniela Weinmann, die Frau hinter Odd Beholder, auf dem Cover ihres Debütalbums abgebildet ist. Die nicht sehr bequem wirkende Körperhaltung hat natürlich einen ganz anderen und sehr konkreten Hintergrund: Sie macht ein Selfie, und sie streckt der Welt ihren Allerwertesten entgegen – das darf man als Symbol für ihren Blick auf die Online-Welt verstehen.

All Reality Is Virtual begann mit der Überlegung, wie viel Zeit ich online verbringe. Und vor allem, womit“, berichtet die Züricherin, die vor diesem Album die EPs Lighting (2016) und Atlas (2017) veröffentlicht hat. Im Frühjahr 2018 gab es dann eine weitere EP mit Remixes befreundeter Künstler, darunter Hundreds, mit denen sie auch auf Tour war. Die Zeit auf Reisen, in denen die Verbindung nach Hause eben meist virtuell wird, hat die Ausgangsidee für diese Platte sicher verstärkt, ebenso die Notwendigkeit, den Anfängen der Karriere von Odd Beholder durch Präsenz und Austausch auf diversen Social-Media-Plattformen zusätzlichen Rückenwind zu verschaffen. „Ich habe nie gelernt, mich sicher zu fühlen in einer Umgebung, die nur aus Bildern und Worten besteht. Vor allem in einer Umgebung, in der zumindest theoretisch alles, was ich mache und sage, immer und überall auf der ganzen Welt zugänglich und wahrnehmbar ist, in der meine Spuren niemals verschwinden werden“, sagt Weinmann.

Man nimmt ihr diese Verwirrung und Sensibilität ab, zugleich hat sie in der Inkarnation als Odd Beholder offensichtlich einen Weg gefunden, die nötige Souveränität zu entwickeln. Wie gut sie die Welt der Bilder mittlerweile für das eigene Werk zu nutzen weiß, zeigt beispielsweise das Video zu Loneliness. Es begann mit einem Bild in ihrem Kopf, nämlich einer Figur in der Wüste. „Später, bei der Recherche für den Videoclip, dachte ich eher an eine Kämpferin, ich stellte mir die Waffen vor, die sie sich aussucht. Allmählich wurde die Figur in meinem Kopf immer mehr zu einer Figur in einem Spiel. Also dachte ich mir den Kampf als Spiel oder Sport“, erzählt Weinmann. Für den Dreh wurde dann die belgisch-schweizerische Performance-Künstlerin Annalena Fröhlich angeheuert, die als Fechterin allein gegen einen unsichtbaren Gegner antritt.

Zum Lied, dessen zentrale Zeile „Loneliness, you’re the friend that I hate the most“ lautet, passt das bestens. Der Sound ist behutsam und scheint sich an jeden neuen Ton erst vorsichtig heranzutasten, aber man ahnt dennoch die Energie, die auch aus diesem Hass erwächst. Für Weinmann kann der Kampf in der Wüste „auch die Einsicht sein, dass das Spiel gegen dich ausgerichtet ist. Der Gegner ist einfach durch die Infrastruktur verkörpert und muss nicht mal anwesend sein, um dich zu besiegen. Das ist die Einsamkeit, struktureller Macht zu unterliegen.“

Derlei clevere Motive und überraschende Verbindungen findet man häufig auf All Reality Is Virtual, mal mit explizitem Bezug zum Thema, mal etwas indirekter. The Likes Of You ist geheimnisvoll im Gesamteindruck, aber auch, wenn man jedes einzelne Element für sich betrachtet. In Like This erzählt eine Computerstimme von „imaginery love“. Der Beat in Easy Difficult ist komplexer und offensiver als in den anderen Stücken von Odd Beholder, der Rest des Lieds wirkt hingegen eher verträumt. Das ist natürlich die Widersprüchlichkeit, die auch im Titel steckt, und damit das passende Mittel für das Thema das Songs, in dem es darum geht, wie schwierig es ist, auch zu sich selbst konsequent zu sein und einen eigenen Kompass fürs Leben zu finden. Der Titelsong All Reality Is Virtual klingt entsprechend freischwebend, trotzdem ungeduldig und kraftvoll.

„Vieles von dem, was online passiert, fühlt sich fade, falsch und manipulativ an. So entwickelte ich einen Appetit auf das Physische“, blickt Daniela Weinmann auf den Entstehungsprozess der Platte zurück. Ihr wichtigster Kompagnon dabei wurde Produzent Martin Schenker. „Ich vertraute seinem Geschmack und vor allem seinen chaotischen Methoden. (…) Am Ende benutzten wir einige schrottige Synthesizer wie den Yamaha DX7, Roland D-50 oder Dr. Rhythm. Und vor allem unsere Gitarren. Das Album mit Martin zu produzieren, fühlte sich an, wie in einer Band zu spielen“, sagt sie.

Ein Track wie Reforesting Fire unterstreicht diesen Effekt: Die einzelnen Elemente wie Sequenzer, Gesang und Gitarre lassen sich klar ausmachen, trotzdem ist der Song in sich sehr geschlossen, wie ein Monolith, als sei er eher eine Atmosphäre als ein Lied. Ähnlich funktioniert das abstrakte Numbered Days, auch auf dem Album-Schlusspunkt Not The Sun schafft Odd Beholder eine Stimmung, der man sich nicht entziehen kann, die sehr ernsthaft klingt und doch wirkt, als komme sie aus einer Traumwelt.

„Ich habe den Eindruck, wir haben ein seltsames Pop-Album aufgenommen, das bunt ist und nachdrücklich. Und das sich mit den eigenartigen Versuchungen unserer Zeit befasst – von Tinder zu KI, von Offline-Einsamkeit zu obsessiver Selbstvermarktung“, sagt Daniela Weinmann über All Reality Is Virtual. Das ist eine sehr treffende Zusammenfassung der Platte – und mit 245 Zeichen passt dieses Fazit neuerdings sogar in einen einzigen Tweet.

Kampf in der Wüste: Das Video zu Loneliness.

Odd Beholder bei Bandcamp.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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