Odd Beholder – „Sunny Bay“

Künstler Odd Beholder

Odd Beholder Sunny Bay Review Kritik
Aus einem Traum stammt das Bild der schwimmenden Torte.
Album Sunny Bay
Label Sinnbus
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Menschen, die sehr gerne aus dem Fenster schauen, gelten als suspekt. In der Schule werden sie ermahnt, den Blick lieber auf die Tafel zu richten. An der Arbeit sollten sie ihre Aufmerksamkeit besser den Aufgaben widmen, die sie vor sich finden, mahnen die Kolleg*innen. Und selbst im Müßiggang des Ruhestands können dabei Menschen herauskommen wie der Pöbler in Feinripp-Unterhemd, den Harald Schmidt gelegentlich parodiert hat: Er lehnt auf seinem von einem Sofakissen gepolsterten Fensterbrett und meckert über alles und alle, was er da draußen in der Welt so erblickt.

Daniela Weinmann beweist nun mit ihrem zweiten Album als Odd Beholder, dass dieses Hobby durchaus auch positive Resultate haben kann. Die Schweizerin wohnt in einer ehemaligen Fabrik, und wenn sie dort aus dem Fenster schaut, blickt sie auf Wasser und Grün, was für etliche kleine (Spinnen und Insekten) und größere (Schwäne und Bieber) Tierchen in direkter Nachbarschaft sorgt, auch ein Kauz lebt dort. „Der Kauz ist unfassbar niedlich. Aber er ist eine Killermaschine. Unter seinem Baum liegen jede Menge Skelette. Ich kann hier dem kompletten Zyklus von Leben und Sterben in all seiner Langsamkeit und Unerbittlichkeit zusehen. Die Natur macht einfach ihr Ding, sie ist unkontrollierbar, nicht zu planen“, hat Weinmann erkannt und sich davon zu Sunny Bay inspirieren lassen.

Am deutlichsten ist das in Accept Nature zu erkennen. Der Bass treibt dieses Lied an und sorgt zugleich für eine unheilvolle Atmosphäre, die von der Zeile „I don’t want to be human no more“ noch verstärkt wird. Auch in einigen weiteren Fällen verweisen schon die Songtitel auf die zentrale Thematik, etwa Birds (der Anfang ist noch sphärisch, dann wird es nach und nach konkreter und sogar tanzbar) oder Silent Spring (das Stück ist zunächst fast acappella, dann wird eine traumwandlerische Sicherheit im Gestalten von spannenden, eindringlichen, intimen Klangwelten erkennbar, die man bei Odd Beholder immer wieder beobachten kann). Olive Trees scheint eher eine Urlaubserinnerung zu sein, denn hier tauchen inmitten einer tollen, fast selbstvergessenen Atmosphäre neben dem Laub des besagten Baums auch der Gesang von Zikaden und der Ozean auf.

Dieses Leitmotiv ist durchaus erstaunlich, schließlich hatte sich Weinmann auf ihrem Debütalbum All Reality Is Virtual stattdessen noch mit den Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigt. Zum einen wollte sie aber auf Sunny Bay nicht allzu stark innerhalb eines Konzepts bleiben („Die Songs stehen im Zentrum. Ich möchte sie genau so hören, wie sie in meiner Vorstellung klingen. Es muss sich richtig anfühlen“), zum anderen liegt ihr die Natur auch jenseits des kreativen Schaffens am Herzen. Daniela Weinmann hat den Schweizer Ableger von Music Declares Emergency mitgegründet, einer Gemeinschaft von mehr als 3000 Menschen aus der Musikbranche, die einen entschlosseneren Einsatz gegen den Klima-Notstand fordern, und zu der unter anderem auch Anna Calvi, The 1975 oder Hot Chip gehören. „Das ist mein Ansatz, als nicht künstlerische Persona wirklich etwas zu bewegen. Wirklich ein Mensch zu sein, der mit anpackt und versucht, Alternativen zu finden“, sagt Weinmann. „In der Kunst möchte ich nicht accountable sein, da möchte ich böse sein können. (…) Als Mensch trage ich Verantwortung.“

Für die dunke Seite in ihrem musikalischen Alter Ego hat sie den Begriff der „toxischen Weiblichkeit“ erschaffen und analysiert: „Als weiße Frau bin ich voll von Problemen. Ich stehe ja immer noch auf Platz 2. Ich bin ja sozialisiert worden als ein Mann im Kapitalismus. Ich will die böse Frau erzählen, die nicht verstehen kann, dass sie Emanzipation so gestalten kann, dass sie solidarisch ist und für alle zum besten führt. Sie ist einfach wütend, und sie will alles zerstören, aber nichts daran ist konstruktiv“, erklärt sie, und entsprechend finden sich auf Sunny Bay immer wieder verstörende Bilder wie brennende Rollerblades (das Cover zur Single Disaster Movies), die Geschichte eines Ausbruchs im dazugehörigen Video oder die schwimmende Torte auf dem Album-Cover. „Das sind Träume, auch meine Mädchenträume, die kaputt gehen. Aber es sind keine nachhaltigen Träume. Anzuerkennen, dass sie existieren, um sie gehen lassen zu können, setzt viel neue Kraft frei. Mir geht es schon um die Vernichtung von Träumen, aber nicht in einem destruktiven Sinne. Wir haben gelernt, ein solches Ende negativ zu lesen, dabei ist es Anfang und Befreiung.“

Das besagte Disaster Movies, das die Platte eröffnet, erweist sich dabei als Highlight. Die Refrainmelodie bleibt lange im Kopf, alles an diesem Song ist modern und dringend, natürlich einschließlich der Erkenntnis, dass sich womöglich vor unser aller Augen gerade ein tatsächlicher Katastrophenfilm abspielt, bedingt durch die weltweite Umweltzerstörung. Rental Car wird komplex und hypnotisch wie viele Songs auf diesem Album, Transatlantic Flight gaukelt im Sound eine Niedlichkeit vor, wie man das von Japanese Breakfast kennt, aber natürlich gibt es auch bei Odd Beholder einen doppelten Boden.

„Ich kann nicht loslassen, und frage mich, was eigentlich mein Problem ist. Ich sehe mich als toxische Protagonistin, die versucht zu verstehen, warum sie so toxisch ist“, beschreibt Weinmann ihre Perspektive dabei, die dabei stets die Gender-Komponente im Blick hat, weshalb sie diesmal erstens bewusst mehr Fäden selbst in die Hand genommen und zweitens beispielsweise für ihre Videos ausschließlich mit Frauen gearbeitet hat. „Es hängt mit Diskriminierung zusammen“, lautet ihre Begründung. „Aber das lässt sich schwer greifen, denn das ist keine einzelne Person oder zentrale Erfahrung. Es sind tausende kleine Sachen. Immer wenn du als Frau etwas in die Hand nimmst, ist ein Typ zur Stelle, der dir ungefragt erklärt, wie es eigentlich funktioniert. Und über all die Jahre in der großen Summe macht das etwas mit der Selbstwahrnehmung. Offensichtlich kannst du es nicht, obwohl du es kannst. Und dann gibst du die Sachen eher ab.“

Natürlich findet sich in den Songs von Odd Beholder eine Entsprechung dieser tiefgründigen Reflexion. „I don’t have the guts to pray“, singt sie im vergleichsweise reduzierten Titelsong Sunny Bay; ihre Furcht kommt wohl daher, dass sie womöglich eine Antwort auf diese Gebete erhalten könnte. Cupid’s Foul Play schließt das Album zunächst nur mit Gesang und Klavier ab: Dieses Arrangement ist in seiner Ursprünglichkeit zu diesem Zeitpunkt enorm überraschend, und es erzeugt (auch, als sich dann doch noch andere Instrumente dazugesellen) eine Unmittelbarkeit, die bei etlichen Hörer*innen für Gänsehaut sorgen dürfte. Big Deal zeigt, dass große Fragen manchmal auch an einem kleinen Küchentisch diskutiert werden und wie strapaziös und aufreibend das sein kann – wohl auch dann noch, wenn man notfalls einfach zur Ablenkung aus dem Fenster schauen könnte.

Die Torte vom Albumcover hat einen kleinen Gastauftritt im Video zu Disaster Movies.

Website von Odd Beholder.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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