Künstler | Okkervil River | |
Album | The Silver Gymnasium | |
Label | Pias | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Es ist nicht ganz einfach zu erklären, welche Funktion ein Produzent bei der Entstehung einer Platte hat. Natürlich “produziert” er ein Album nicht in dem Sinne, wie ein Handwerker das tun würde, er stellt also nicht wirklich das Produkt her. Normalerweise hat er die Songs nicht geschrieben, spielt keines der Instrumente und (wir alle können vor allem über diesen Punkt wohl sehr glücklich sein) singt in der Regel auch nicht. Vielmehr sorgt er dafür, dass ein Album überhaupt zustande kommt und möglichst gut ist – so ähnlich wie ein Regisseur beim Film. Er gibt Hinweise, beurteilt Ideen, schlägt die passenden musikalischen Mittel für die ästhetische Vision eines Künstlers vor. Er hat das große Ganze im Blick.
Für The Silver Gymnasium von Okkervil River war diese Rolle besonders entscheidend, denn Frontmann Will Sheff hatte diesmal einen Ansatz im Sinn, den er mit dem Sextett zuletzt kaum noch verfolgt hat. Statt vorzugsweise auf einen Erzähler in der dritten Person zu setzen, sollte es nun stark autobiografisch werden. „Auf unserer letzten Platte I Am Very Far habe ich versucht, vor allem mich selbst sowohl zufrieden zu machen als auch musikalisch herauszufordern. Mit The Silver Gymnasium hatte ich eher andere Leute im Blick. Ich wollte sie erreichen und dafür sorgen, dass sie eine gute Zeit haben“, sagt Will Sheff.
Alle Songs auf The Silver Gymnasium sind angesiedelt in seiner Heimatstadt Meriden, New Hampshire, im Jahr 1986. Die nicht ganz einfache Aufgabe für den Produzenten lautete: Lass es klingen wie die kindliche Freude über eine Actionfigur, die man im Wald gefunden hat! Das Album soll Spaß machen und direkt sein!
Greifen wir ein wenig vor: Das hat geklappt. Als Songwriter hat Will Sheff daran natürlich besonderen Anteil. Stay Young wird funky und feurig im Stile von The Jam, Pink-Slips ist ein großartiges Lied mit einem klasse Finale. Auf Where The Spirit Left Us gönnen sich Okkervil River ein wenig mehr Eleganz, mit Black Nemo schlendern sie ein paar Schritte in Richtung Country.
Ein Schlüsselfaktor dafür ist freilich auch die Wahl des Produzenten. Sie fiel auf John Agnello, in den Augen von Will Sheff für diese Platte „die perfekte Besetzung, nicht nur weil ich die Sachen sehr gut fand, die er unlängst mit Kurt Vile oder Dinosaur Jr. gemacht hat. Sondern auch, weil er ein Produzent der alten Schule ist, der an vielen der Platten tatsächlich schon mitgearbeitet hat, die ich gehört habe, als ich heranwuchs.“ In der Tat hatte John Agnello seine Finger etwa in der erfolgreichsten Karrierephase von John Mellencamp im Spiel, ebenso bei Hits von Cyndi Lauper, auch an Bruce Springsteens Born In The USA und dem legendären Damn The Torpedoes-Album von Tom Petty hat er mitgewirkt. „Er war unmittelbar dabei, als ein großer Teil der Musik entstand, die in mir damals den Wunsch geweckt hat, Musiker zu werden, und die für The Silver Gymnasium die zentrale Inspiration war.“
Man hört diese Einflüsse tatsächlich sehr deutlich. Die Perspektive im mehr als sechsminütigen Down Down The Deep River ist gleichzeitig sehr abgeklärt und doch ist Will Sheff mit ganzem Herzen dabei, wie man das eben von Tom Petty kennt. In der Ballade Lido Pier Suicide Car bekommt seine Wehmut erst ganz viel Raum, dann gesellt sich (erstaunlich schlüssig) ein derber Saufgelage-Tanz dazu: Solche Entwicklungen nahmen die Songs früher auch gerne mal bei Bruce Springsteen.
Auch etliche andere Helden dieser Ära klingen auf The Silver Gymnasium an. Der Album-Auftakt It Was My Season ist der Versuch, Weltschmerz mit Punk-Spirit, einem Klavier und einem immer opulenter werdenden Sound zu vereinen, natürlich kennt man diesen Ansatz vor allem von Elvis Costello. Der Marsch-Rhythmus, der manchmal fast gesprochene Gesang und der Furor am Ende von White lassen an Nick Cave denken. Walking Without Frankie fährt weniger Instrumente auf als die meisten anderen Lieder der Platte und setzt stattdessen auf die Kraft des Repetitiven, das Ergebnis könnte von Iggy Pop sein.
Eine Intensität und Leidenschaft, wie man sie zuletzt gerne bei Ezra Furman gehört hat – zwar ein Nachgeborener, aber ebenfalls ein begnadeter Nostalgiker – lassen Okkervil River in All The Time Every Day erkennen. „That sweet and tender pain / do you think there will come a time / when you will never feel it again?“, fragt Will Sheff darin. In On A Balcony stecken so viele Instrumente und Teile, dass man sehr konzentriert sein muss, um darin noch eine Struktur erkennen zu können. Aber natürlich ist genau das beabsichtigt: Das Gefühl soll im Vordergrund stehen und alles andere überstrahlen. Das Ziel für das Album haben Sheff und Agnello damit eindeutig erreicht: Ganz oft klingt The Silver Gymnasium wie Musik, zu der man sich das Hemd aufreißen oder das Autofenster bis ganz nach unten kurbeln will. Gerne darf beides auch aus dem Jahr 1986 stammen.