Künstler*in | Parcels | |
Album | Day / Night | |
Label | Virgin | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Natürlich ist die Nacht nicht nur die andere Hälfte des Tages. Zwar kann man seit der in den 1880er Jahren beginnenden Verbreitung des elektrischen Lichts im Prinzip nachts alles machen, was man auch tagsüber machen kann. Aber der grundlegende Wechsel zwischen Tag und Nacht wird uns durch die Bewegung der Gestirne ebenso kontinuierlich vor Augen geführt wie er tief in unser Erbgut und unsere Urinstinkte eingeschrieben ist. Die Nacht steht auch heute noch für Bedrohung, sie lässt Die Ängstlichen unter uns Schutz suchen oder weckt bei mutigen Zeitgenoss*innen die Versuchung, die Dunkelheit auszunutzen.
Auch Parcels aus Byron Bay in Australien haben sich nun diesem Zweiklang gewidmet. Day/Night ist das zweite Studioalbum der 2014 gegründeten Band, die sich hier in 19 Tracks den beiden Tageshälften widmet. Natürlich könnte dabei eine Rolle gespielt haben, dass Jules Crommelin (Gitarre), Louie Swain (Keyboards), Patrick Hetherington (Keyboards, Gitarre), Noah Hill (Bass) und Anatole „Toto“ Serret (Schlagzeug) schon seit 2015 in Berlin leben, wo man bekanntlich mühelos die Nacht zum Tag machen kann. Zum Konzept der Dichotomie hat sicher auch beigetragen, dass Parcels neben vielen Erfolgen und erfreulichen Momenten – Albumverkäufe im sechsstelligen Bereich, mehr als 350 Millionen Streams, Tourneen mit Phoenix und Air, Studioarbeit mit Daft Punk, von denen ihre erste Single produziert wurde – zuletzt auch harte Zeiten zu überstehen hatten, wie wir alle in der Corona-Pandemie. Während des Lockdowns saßen sie in Europa fest und es war unklar, ob/wann sie wieder zu ihren Familien nach Australien dürfen. Der Song Comingback verarbeitet nun diese Erfahrung, er vereint Nervosität und Einfallsreichtum. „Wir haben uns die riesige rote Wüste Australiens vorgestellt, hatten also dieses Bild im Hinterkopf, als wir den Track einstudiert haben“, berichten sie dazu.
Grundsätzlich befasst sich die Night-Hälfte des Albums, das Parcels in den Pariser La Frette Studios aufgenommen und selbst produziert haben, mit Themen wie Verlust, Reue und Einsamkeit, dem Wegbrechen von Gewissheiten und Konstanten. „Night steht für die dunklere Seite der Psyche… für die Schattenseiten. Einige Texte aus diesem Teil sind auch gar nicht so leicht zu verdauen“, sagen die fünf Musiker, die sich noch aus der Schule kennen und nach den EPs Clockscared (2015) und Hideout (2017) vor drei Jahren ihr Debütalbum vorgelegt hatten.
Parcels hatten für Day/Night zwischenzeitlich rund 150 Demos auf Lager und wählten eine ziemlich besondere Methode für die endgültige Auswahl: „Wir haben uns als erstes einen Proberaum gesucht, uns dort drei Monate lang eingeschlossen und gelernt, wie man eigentlich die Instrumente für all diese Songs spielt – eine Art Instrumenten-Bootcamp also. Schließlich waren wir davor so lange auf Tour gewesen und hatten dieselben Songs immer und immer wieder gespielt, und natürlich wird man da ein wenig steif. Wir hatten etwas von dieser klassischen Konversation verloren, die man im Idealfall mit einem Instrument hat. Also kamen wir jeden Tag dorthin, wählten Songs aus, die uns gefielen, redeten über deren Aufbau und lernten sie nachzuspielen… alles von klassischem Blues und Soul bis Folk, Funk, sogar Heavy Metal.“ Das verbliebene Material wurde auf diese Weise auf eine Liste von zunächst 40 Songs gekürzt, aus denen dann das finale Tracklisting entstand. Dabei haben sie sich vor allem daran orientiert, „was richtig war für die Musik selbst“, sagen Parcels. „Deine Energie muss in erster Linie in die Musik selbst fließen. Es geht also auch nicht um Individuen, sondern um die Summe unserer Teile.“
Die Vielfalt der Einflüsse und eine fast überbordende Kreativität ist auf Day/Night dennoch unverkennbar geblieben. Theworstthing (als die Band zu Beginn ihrer Karriere die Namen für ihre ersten Demos festlegte, geschah das auf einer Tastatur mit kaputter Leertaste, und der Verzicht auf Zwischenraum zwischen den Wörtern wurde seitdem beibehalten) ist funky und dabei zurückhaltend, elegant und dabei intelligent, NowIcaresomemore setzt auf einen Latin-Rhythmus und stellt die Gesangharmonien als Markenzeichen von Parcels ins Schaufenster, Neverloved wird dramatisch, komplex, spektakulär verschachtelt und meisterhaft arrangiert.
LordHenry klingt, als hätte jemand Earth, Wind & Fire ins 21. Jahrhundert gebeamt, Thefar hingegen verbreitet eine digitale Melancholie, wie man sie bei den Gorillaz erleben kann. In Reflex scheint Jimmy Sommerville auf James Blake zu treffen, zugleich paaren sich hier Sensibilität und ein bisschen Größenwahn. Once lässt Folk-Ursprünge erkennen und daran denken, wie Rufus Wainwright klingen könnte, würde er aufs Schauspiel in seiner Musik verzichten.
Das Tag-Nacht-Konzept ist nicht zwingend erkennbar, wenn man nichts davon weiß, aber Ehrgeiz und Wagemut dieser Band werden sehr deutlich, ebenso ihre Vorliebe für Live-Situationen (2020 haben Parcels ein Livealbum veröffentlicht), die sich ja auch auf den Entstehungsprozess von Day/Night ausgewirkt hat. So wirkt das instrumentale Daywalk wie eine Jam-Session, Free macht Lust aufs Tanzen, und zwar mit einem Twist und viel Seele. Outside ist sanft, zärtlich und rührend wie beispielsweise die Songs der Band Of Horses. Es ist mit mehr als sieben Minuten das längste Stück der Platte und zugleich der Track, der am deutlichsten zeigt, wie weit sich Parcels hier von den noch stärker elektronischen Klängen ihrer Anfangsjahre entfernt haben.
Nightwalk baut unter anderem die Geräusche von nächtlichen Schritten durch Gestrüpp ein und lässt auch sonst an ein Hörspiel denken, auch Light offenbart ganz viel Ambition, Können und – was dabei besonders wichtig ist – Gefühl. Somethinggreater bezeichnen die Australier als ihren Versuch, „einen eleganten Banger aufzunehmen“. Das hat geklappt, wozu der Bass ebenso beiträgt wie die Gesangsmelodie und eine dezente Ähnlichkeit zu Get Lucky von Pharrell Williams. Die Zeile „Holding out for something greater / holding out for something else“, könnte dabei das Motto fürs gesamte Album sein. In Famous blicken Parcels auf den eigenen Werdegang zurück und darauf, „was es eigentlich heißt, es als Band zu schaffen und Geld damit zu verdienen“, sagen sie. Die Erkenntnis, legt man dieses Lied mit viel Tempo und Boogie zugrunde: Es scheint Spaß zu machen, sogar viel Spaß, aber auch nicht frei von Tücken und teils heftigen Überraschungen zu sein.