Per Gessle – „Small Town Talk“

Künstler Per Gessle

Per Gessle Small Town Talk Review Kritik
Aus zwei schwedischen Alben hat Per Gessle mit „Small Town Talk“ ein englisches gemacht.
Album Small Town Talk
Label Elevator Entertainment
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Ein flüchtiger Blick auf Small Town Talk könnte den Eindruck bestätigen, dass Per Gessle nichts mehr einfällt. Diesen Verdacht hatte schon das enttäuschende letzte Album von Roxette genährt, jetzt erkennt man schon auf der Albumhülle, dass der Mann, der einst Welthits wie The Look, It Must Have Been Love oder Joyride aus dem Ärmel geschüttelt hat, bei 8 von 13 Liedern auf ein „featuring“ setzt, nur 5 der hier enthaltenen Songs hat er ganz alleine geschrieben.

Dieser Vorwurf erweist sich allerdings schnell als vollkommen unbegründet. Die zahlreichen Mitstreiter haben einen ganz Hintergrund. Bei etlichen Liedern ist hier Shannon Vaughn als Texterin genannt. Sie hat schon für Anastacia, Sunrise Avenue, Boyzone oder viele Countrygrößen wie Willie Nelson und Dolly Parton in dieser Funktion gearbeitet. Bei Per Gessle kam sie nicht ins Spiel, weil der selbst nichts mehr zu erzählen hätte, im Gegenteil: Die Inhalte, die er auf Small Town Talk präsentieren wollte, waren zu persönlich.

Denn das Album beruht auf den beiden schwedischen Platten En vacker dåg und En vacker natt, die Gessle im vergangenen Jahr in seiner Heimat veröffentlicht hat. Beide erreichten dort die Spitze der Charts, die besten Lieder daraus wollte er nun auf Englisch auf einem internationalen Album versammeln. Doch der Versuch, die Texte selbst zu übersetzen, scheiterte. „Die Texte waren ziemlich persönlich. Ich hatte eine ziemlich harte Phase zu überstehen, weil innerhalb von drei Jahren meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder gestorben waren. Viele der Texte handelten davon und ich war einfach nicht in der Lage, diese Inhalte ins Englische zu übertragen. Es fühlte sich zu privat an für eine andere Sprache. Deshalb hat Sharon Vaughn dabei unterstützt. Sie hat das großartig hinbekommen“, hat Per Gessle im Gespräch mit Billboard erklärt.

Die anderen Mitstreiter sind entweder langjährige Wegbegleiter wie Sängerin Helena Josefsson, die schon lange fester Bestandteil der Liveband von Per Gessle ist (und zuvor auch von Roxette war), oder wurden ebenfalls aufgrund des Charakters des Ausgangsmaterials von En vacker dåg und En vacker natt ausgesucht. Die Songs sind meist akustisch, ruhig und getragen. Als die Frage aufkam, welche Umgebung für die Aufnahmen am besten geeignet wäre, einigte man sich schnell auf Nashville. Drei Wochen lang wurde dann dort aufgenommen, unterstützt von einigen lokalen Musikern wie Dan Dugmore, der hier sehr häufig an der Pedal Steel Guitar zu hören ist, oder Geiger Stuart Duncan.

Auch einer der weiteren Namen hinter den vielen „Featurings“ ist durch diesen Zusammenhang zu erklären. Der Titelsong Small Town Talk hieß auf Schwedisch Småstadsprat und war ein Duett mit Lars Winnerbäck. Für die englische Version wurde ein internationaler Duettpartner gesucht. Ganz oben auf der Wunschliste stand Nick Lowe, der sich unter anderem als Solokünstler, Produzent von Elvis Costello und enger Freund des Clans um Johnny Cash und June Carter einen Namen gemacht hat. „Er ist einer meiner größten musikalischen Helden überhaupt“, verrät Per Gessle. „Ich liebe seine Musik schon seit der Zeit, als ich meine erste Band in den späten 1970ern gründete. Es gibt wahrscheinlich wenige Platten, die ich so oft gehört habe wie sein Album The Convincer.“

Der Gesang von Nick Lowe ist im besagten Song tatsächlich sehr nahe am späten Johnny Cash, gemeinsam mit der Stimme von Gessle und den Backing Vocals von Helena Josefsson ergibt das eine sehr interessante Klangquelle und eine erwachsene Stimmung, wie man sie selten in den Liedern von Per Gessle findet. Auch der Album-Auftakt There’s A Place ist beinahe purer Country: Geige und Pedal Steel Guitar werden sofort sehr prominent im Mix platziert, später erklingt auch eine Mundharmonika. Selbst, wenn man nichts über die Aufnahmen in Nashville wüsste, müsste man dieses Lied sofort dort verorten.

Diese zurückgenommene Stimmung tut vielen der Songs extrem gut. Hold On My Heart wird gemütlich und gefällig, ohne langweilig zu sein, Being With You lebt von Melodie und Atmosphäre, No One Makes It On Her Own erweist sich als wunderhübsches Duett mit Mit Helena Josefsson. Auch, wenn der Sound etwas moderner wird, hat man oft den Eindruck: Per Gessle sei hier mit so viel Herzblut und Inspiration am Werk wie lange nicht. Das gilt für The Finest Prize, das einigermaßen auffällig in Richtung Radio schielt, oder Simple Sound, das passend zum Songtitel eine Heiterkeit und Leichtigkeit ausstrahlt, die er immer noch meisterhaft beherrscht. Name You Beautiful ist Pop, der alles hat, was dieses Wort braucht. Die Musik dazu hat Per Gessle mit drei Co-Autoren geschrieben, unter anderem dem DJ-Team Galavant aus seiner Heimatstadt Halmstad.

Auch für den Album-Schlusspunkt Rudy & Me hat sich Per Gessle nicht nur beim Gesang (Jessica S.) Verstärkung geholt, sondern auch beim Songwriting. Addeboy vs. Cliff hatten als Co-Autoren schon Good Karma auf dem letzten Roxette-Album mitgeschrieben, diese Verbindung ist allerdings nicht gerade die beste Referenz. In der Tat klingt Rudy & Me beliebig und wie eines der Lieder, das er noch übrig hatte und zuletzt gerne für Roxette verwurstet hat. Dass die Komposition hier halbherzig in Richtung Country getrimmt wird, hilft auch nicht, weil dieser Sound schlicht nicht zu diesem Lied passt. Small Town Talk hat noch ein paar weitere Schwachpunkte: One Of These Days ist so gewöhnlich, dass es auch One Of These Songs heißen könnte, For The First Time fehlt Dynamik, das etwas psychedelische It Came Too Fast will besonders erwachsen und ambitioniert sein, findet dafür aber keine passende Form.

Insgesamt hat sich der Trip nach Nashville aber mehr als gelohnt. Gerade der Input anderer Künstler scheint Per Gessle hier beflügelt zu haben. Während er bei Roxette zuletzt häufig nur noch zweitklassiges Archivmaterial aufbereitet hat im Versuch, alktuellen Trends nachzuhecheln, besinnt er sich auf Small Town Talk auf seine Stärken und zeigt in vielen Momenten, was für ein großartiger und sogar seriöser Songwriter er sein kann. Das beste Beispiel dafür ist Far Too Close, ein Duett mit Savannah Church. Die Atmosphäre ist innig, die Musiker sind superb, die Melodie ist traumhaft, sogar der Text ist gelungen. Dieser Song ist nichts weniger als ein Glanzstück in seiner nun schon 40 Jahre währenden Karriere – und Anlass dazu, auf weitere Highlights zu hoffen.

Man sieht sofort: Name You Beautiful war offizieller Song der Tischtennis-WM 2018.

Website von Per Gessle.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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