Phoenix – „Alpha Zulu“

Künstler*in Phoenix

Phoenix Alpha Zulu Review Kritik
Das Cover ist einem Gemälde von Botticelli entnommen.
Album Alpha Zulu
Label Glassnote
Erscheinungsjahr 2022
Bewertung

So kann man sich die Auswirkungen einer Pandemie natürlich auch zunutze machen: Phoenix haben ihr siebtes Album an einem Ort aufgenommen, der ohne Corona niemals zugänglich gewesen wäre, nämlich im Musée des Arts Décoratifs, einem Teil des Louvre. Wie Ben Stiller als Wachmann Larry Daley in Nachts im Museum bekamen sie den Schlüssel zu fast allen Räumen und konnten sich im Sommer 2020 ein Tonstudio einrichten, weil der Louvre während des Lockdowns für den Publikumverkehr geschlossen war.

Thomas Mars, Christian Mazzalai, Laurent “Branco” Brancowitz und Deck d’Arcy konnten einen Nebeneingang nutzen und mussten dann zehn Minuten durch die unbeleuchteten Räume laufen, um zu ihrem Studio zu kommen. Ihre Handylampen tauchten dabei Gemälde, Statuen und Installationen kurz ins Licht, sogar am einstigen Thron von Napoleon führte ihr neuer Arbeitsweg vorbei. „Ich hatte fast ein bisschen Sorge, dass es schwierig werden könnte, in dieser Umgebung etwas zu erschaffen, weil da schon so viel Schönheit um uns herum war“, sagt Gitarrist Christian Mazzalai. „Aber das Gegenteil war der Fall: Wir konnten gar nicht mehr aufhören, Musik zu produzieren. In diesen ersten zehn Tagen haben wir fast das gesamte Album geschrieben.“

Spontaneität und Direktheit sind in der Tat die prägenden Kräfte für Alpha Zulu. Das französische Quartett war bisher eher für perfekt ausgetüftelte Songs und bis ins Detail ausdefinierte Klanglandschaften bekannt, diesmal stand ihnen der Sinn aber eher nach Intuition als nach Perfektionismus. Gitarrist Laurent Brancowitz fand es spannend „etwas aus dem Nichts heraus zu erschaffen“, laut Mazzalai war auch der Geist ihres langjährigen Wegbegleiters Philippe Zdar, der 2019 starb, sehr präsent. “Es gab viele Momente, in denen seine Ideen spürbar waren. ‚Jeté‘, hätte er wahrscheinlich gesagt, als wir so schnell vorangekommen sind.” Ganz bewusst habe man sich häufig für die ersten Takes und den ursprünglichen Zustand eines Songs entschieden. „Wir hatten zwischendurch versucht, ein paar Gitarren und Drum Loops noch einmal neu aufzunehmen. Aber sie fühlten sich dann weniger pur an, weniger unschuldig. Alle Aufnahmen, alle Texte – auf diesem Album kam alles super schnell und unkontrolliert.“

Nun ist es nicht so, dass die Band aus Versailles – der bei dieser Herkunft quasi Eleganz, Pomp und auch ein bisschen Dekadenz in die Wiege gelegt sind – plötzlich zu einer Punk-Combo mutiert wäre oder dass der laissez-faire-Ansatz dazu führte, dass die zehn Songs auf Alpha Zulu wie Demoversionen klingen. Es gibt ein paar schwächere Momente wie das unter anderem durch Auto-Tune-Einsatz gewöhnlich wirkende The Only One oder All Eyes On Me, das viele aktuelle R&B-Einflüsse integrieren möchte, was ihnen allerdings nicht sonderlich gut steht. Trotzdem klingt Alpha Zulu vom ersten Moment an genau wie Phoenix, denn diese vier Musiker haben erkannt: Wir kennen uns seit mehr als 30 Jahren, wir sind schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert eine Band und wir haben bisher ein paar ganz brauchbare Sachen hinbekommen. Wir können auf unser Miteinander vertrauen, ohne jedes Detail der entstehenden Resultate noch zigfach zu prüfen oder anzupassen. “Es fühlt sich fast wie ein Tagtraum an. Une rêverie – das ist einer der entscheidenden Begriffe für dieses Album. Du bist wach, aber trotzdem träumst du. Da läuft etwas Unterbewusstes, das du nicht kontrollieren kannst.”

Auch Covid-19 spielte bei der Entscheidung für diesen Ansatz eine Rolle, nicht nur durch die Möglichkeit, ein Tonstudio im Louvre einzurichten. Denn die Pandemie führte auch erstmalig zu einer zwangsweisen Trennung, als der in New York lebende Sänger Thomas Mars nicht mehr problemlos Teil des Phoenix-Zirkels sein konnte. „Musik ist die Methode, mit der wir unseren Zusammenhalt herstellen. Alleine etwas zu komponieren, finde ich deprimierend“, sagt er. „Musik zu schreiben, war immer wie eine Therapie für uns vier. Es fühlt sich an wie Sport – eine Erleichterung, die dir dabei hilft, dich gut zu fühlen.“ Und laut Christian Mazzalai fühlte sich die Band „wie in einer Trance“, als sie endlich wieder mit dem alten Freund vereint war.

Tonight ist der Song, der dieses Gefühl auch im Text reflektiert, denn es geht darin um den Versuch, sich gegenseitig aus der Isolation zu befreien, zu einem tollen Groove, einer klasse Melodie, viel Vorwärtsdrang und in einer angesichts des Themas erstaunlich sonnigen Atmosphäre. Die neue Offenheit zeigt sich auch darin, dass Phoenix in diesem Track erstmals einen Gastsänger dabei haben, nämlich Ezra Koenig von Vampire Weekend, der sich wunderbar in ihren Sound integriert. Auch in Winter Solstice kann man ein bisschen etwas von der bedrückenden und sorgenvollen Pandemie-Atmosphäre erkennen. “Turn the lights on / find me a narrative / something positive / this requiem played a few times before”, lautet der Text in diesem Lied, das sich an sich selbst herantasten zu scheint. Es ist der einzige Song auf Alpha Zulu, der schon vor den Sessions in Paris fertig war: Die Bandkollegen hatten Thomas Mars einen Loop nach New York geschickt, er hat dann Text und Gesang verfasst.

Ein Gefühl von Sehnsucht, auch ein bisschen Heimweh und Nostalgie nach unbeschwerteren Zeiten, kann man auf dieser Platte immer wieder erkennen, auch wenn die Texte diesmal noch mehr auf Klang statt Bedeutung aus sind, auf Assoziation statt Klarheit. “Tell me anywhere is home / can we go home”, singt Mars beispielsweise im luftigen My Elixir. Auch Artefact vereint gekonnt Tanzbarkeit und Melancholie, Season 2 ist kompakt und überzeugend, After Midnight wird so eingängig, frisch, mitreißend und beinahe ungestüm, dass man eher an ein Debüt denken kann als an eine Band, die schon vor zwölf Jahren einen Grammy gewonnen hat und zuletzt 2019 mit dem Buch Liberté, Egalité, Phoenix auf die eigene Geschichte zurückblickte.

Der Titel der neuen Platte folgt ebenfalls dem Motto „Kann man einfach mal machen.“ Das Kommando “Alpha Zulu, Alpha Zulu, drop altitude” schnappte Thomas Mars bei einem Flug über Belize auf, und er hielt es für eine alarmierende Ansage, obwohl es eine Routine-Anweisung war. Die Wörter spukten seitdem in seinem Kopf herum, und als er sie bei den Sessions im Louvre vor sich hin sagte, war der Rest der Band der Meinung, das klinge gut. Im Titelsong treffen nun ein unerwartetes „Hoo ha“ und ein „Hey, hey, hey“ auf einen hauchzarten Refrain. Auch der Album-Schlusspunkt Identical ist sowohl klassisch als auch ungewohnt: Von den Drums bis zum Gesang ist das typisch Phoenix, aber auch ihr neues Credo wird in der Zeile „Take my advice / make your mistakes“ klar erkennbar.

Beim Musizieren im Museum hatten Phoenix übrigens nicht nur Zugang zu den rund 35.000 Objekten, die im Louvre ausgestellt sind, sondern konnten teilweise auch die nicht-öffentlichen Räume betreten (wie bei vielen Museen, ist auch hier nur ein kleiner Teil des eigentlichen Bestands ausgestellt, wobei der Louvre einen großen Teil seines Depots mit 250.000 weiteren Exponaten unlängst nach Nordfrankreich ausgelagert hat). Deck d’Arcy fand diese Bereiche mindestens so spannend wie die eigentlichen Ausstellungsräume und hat dabei eine weitere Parallele für Alpha Zuku erkannt: „Der Backstage-Bereich des Museums ist wie ein Mashup. Es ist in gewisser Weise sehr poppig – so, wie wir Musik machen.“

Wieder vereint: Das ist auch die Story im Video zu Tonight.

Website von Phoenix.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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