Künstler*in | Placebo | |
Album | Never Let Me Go | |
Label | So Recordings | |
Erscheinungsjahr | 2022 | |
Bewertung |
Ein Strand voller Plastikmüll. Dahinter trübes Wasser, aus dem ein ungesunder Dunst aufsteigt. Felsen, vielleicht auch schmelzende Eisberge. Und von links ins Bild kommend ein paar seltsam große Pixel, als seien sie drauf und dran, die gesamte Szenerie mit einem Computervirus zu überziehen.
So sieht das Cover von Never Let Me Go aus, dem ersten Album von Placebo mit neuem Material seit Loud Like Love (2013) und dem ersten nach dem Ausstieg von Schlagzeuger Steve Forrest im Jahr 2015. Das Motiv (das in der Deluxe Version des Albums übrigens im Booklet und auf jeweils einem schick gestaltenen Karton pro Songtext fortgeführt wird) ist vielleicht nicht geeignet, um Kunstpreise zu gewinnen. Besonders ist es aber in mindestens einer Hinsicht: Es stand ganz am Anfang des Prozesses für diese Platte.
„Ich habe ein großes Problem mit Langeweile“, sagt Frontmann Brian Molko, der beim achten Album der Band deshalb unbedingt die üblichen Routinen vermeiden wollte. „Also beschloss ich, alles verkehrtherum zu machen, um den Entstehungsprozess für mich interessant zu halten – alles aus dem umgekehrten Blickwinkel anzugehen, um zu verhindern, dass ich mich langweile oder wiederhole. Ich dachte: ‚Was ist das letzte, was uns künstlerisch einfällt, wenn wir eine Platte machen? Das ist das Albumcover. Okay, lass uns also diesmal mit dem Albumcover anfangen!‘“
Im nächsten Schritt legte er gemeinsam mit Bassist Stefan Olsdal dann die Songtitel fest, dann erst wurden die Lieder geschrieben. Dieser Wille, alles auf den Kopf zu stellen, hat durchaus auch mit Ermüdungserscheinungen zu tun, die sich insbesondere nach den Tourneen zu Loud Like Love und der 2016 folgenden Best-Of-Sammlung A Place For Us To Dream einstellten. Brian Molko bezeichnet die Greatest-Hits-Konzertreise im Rückblick als „ein bisschen zu kommerziell. (…) Der stumme Schrei, der überall zu hören ist – das ist es, was mich interessiert. Nicht dieses masturbatorische, selbstbeweihräuchernde Zwei-Jahres-Ding à la ‚Sind wir nicht toll?‘“ Stefan Olsdal bezeichnet die fünf Jahre on the road als zermürbend: „Es ging irgendwie immer weiter und es saugte buchstäblich das Leben aus mir heraus. Ich hatte nicht mehr viel Begeisterung für die Band übrig, ich glaube, ich war einfach ausgelaugt. Der Gedanke, dasselbe wieder zu tun, erfüllte mich mit Grauen.“
Man kann das vielleicht für die üblichen Lippenbekenntnisse halten von einer Band, die seit 1994 besteht, mehr als 13 Millionen Alben verkauft hat, schon immer sehr viel von Selbstinszenierung verstand und nun so tun möchte, als sei sie immer noch frisch und edgy. Aber Placebo klingen auf Never Let Me Go tatsächlich hoch motiviert. Sad White Reggae ist vor allem rhythmisch spannend und demonstriert viel Wille, Dringlichkeit und Inspiration. In einem Song wie Hugz (die schöne Zeile „A hug is just another way of hiding your face“ hat Molko der Fernsehserie Doctor Who entnommen) beweist Energie, Wut und Entschlossenheit. Beautiful James ist das Lied, das die Zeile „Never Let Me Go“ enthält und außerdem mit einer kraftvollen Synthie-Figur glänzt, wie von The Killers zu ihrer Hot Fuss-Zeit, was man hier mehrfach finden kann. „Die Platte ist sehr synthie“, bestätigt Molko. „In jedem Song sind vier oder fünf Synthies zu hören und es ist fast so, als ob die verzerrten Gitarren und die Vintage-Synthesizer gleichwichtig sind. So entsteht dieses Drängen und Ziehen zwischen ihnen“, erklärt er den damit erzielten Effekt.
Zu Mut und Motivation, die Placebo hier an den Tag legen, passt auch die Entstehungsgeschichte der heute veröffentlichten Platte. Sie war eigentlich schon vor zwei Jahren fertig und sollte im Sommer 2020 erscheinen. Als dann der Lockdown diese Pläne durchkreuzte, nutzten Placebo die Zeit für Überarbeitungen, Nachbesserungen und Aktualisierungen. Für drei Songs schrieb Brian Molko komplett neue Texte. „Ich wollte die Verwirrung darüber einfangen, wie es ist, in der heutigen Zeit zu leben, das Gefühl, verloren zu sein, immer in einem Labyrinth zu wandeln, ständig von Informationen und Meinungen überwältigt zu werden.“
Man hört das gut in einem Stück wie Surrounded By Spies, dessen unheimliche Atmosphäre schließlich in einen Tumult mündet. Der Song tanzt laut Olsdal innerhalb des Albums „ein bisschen aus der Reihe“ und ist laut Molko geprägt „von den zahllosen Möglichkeiten, wie unsere Privatsphäre ausgehöhlt und gestohlen wurde seit der Einführung weltweiter Überwachungskameras, die jetzt rassistische Gesichtserkennungstechnologien einsetzen; den Aufstieg des Internets und des Mobiltelefons, der praktisch jeden Nutzer in einen Paparazzo und Zuschauer seines eigenen Lebens verwandelt hat, und wie wir fast alle persönliche Informationen an riesige multinationale Konzerne weitergeben, deren einzige Absicht darin besteht, uns auszubeuten.“
Auch Try Better Next Time, getragen von einem guten Groove und einem sehr wirkungsvollen Refrain, hat eine deutlich politische Komponente und wird so etwas wie die akustische Entsprechung des Albumcovers. Der Titel bezieht sich darauf, dass die Menschheit als Gattung gescheitert ist, weil sie ihren Planeten zerstört hat, und noch einmal von vorne beginnen sollte. „Es geht darum, sich Flossen wachsen zu lassen und zurück ins Wasser zu gehen“, sagt Molko und fragt sich: „Gibt es eine andere Spezies auf diesem Planeten, die es mehr verdient hat auszusterben als der Mensch? Wenn man sich anschaut, wie wir uns verhalten und was wir mit unserem Klima angestellt haben – sollte Mutter Natur uns nicht einfach auslöschen und unseren Planeten den Tieren zurückgeben?“
Die Gedanken, die er angesichts von Klimakatastrophe und erodierenden demokratischen Systemen im Gespräch mit seinem Sohn hatte („Ich bin ein bisschen neidisch auf dich, weil deine Generation die Apokalypse vielleicht von der ersten Reihe aus beobachten können wird. Ihr könnt vielleicht zusehen, wie alles brennt. Es könnte das Letzte sein, was du je siehst, aber du wirst sicher im Glanz der Herrlichkeit untergehen!“), sind noch in anderer Weise bezeichnend für Never Let Me Go. Molko ist schließlich Teil der Generation, die zum Kollaps beigetragen und vielleicht auch die letzte Chance auf dessen Vermeidung vergeben hat. Diese Perspektive der Selbstbezichtigung ist – wie man das bei Placebo kennt – sehr prägend für das Album, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Die Zeile „I’ll return a better me“ in The Prodigal ist typisch für dieses Hadern, das jedoch stets mit dem Bemühen (und Glauben) an Besserung verbunden ist. Umgesetzt wird das mit einer eleganten Streichermelodie, die recht deutlich an Under Pressure von Queen und David Bowie erinnert. Auch die Verse „My thoughts are not who I am (…) / I’m trying best I can“ sowie das als Mantra wiederholte „Go fix yourself / instead of someone else“ im Album-Schlusspunkt Fix Yourself passen zu diesem Gedanken. Wenn Molko über Twin Demons singt, kann man das ebenfalls erkennen: Was hier erzählt wird, ist kein Kampf mehr gegen die Dämonen, auch keine Akzeptanz, sondern irgendetwas dazwischen. Er weiß, dass sie da sind, er weiß, dass sie zu ihm gehören, er lernt, mit ihnen umzugehen und vielleicht neben dem Schmerz und der Verzweiflung auch ein bisschen Faszination für sie zu empfinden.
Nicht alles ist perfekt und packend. Die Melancholie von Happy Birthday In The Sky wirkt etwas selbstgefällig, Chemtrails bekommt erst ganz am Ende den nötigen Biss, der Ballade This Is What You Wanted fehlt schlicht die nötige Emotionalität. Dem stehen auf Never Let Me Go aber genug starke Momente gegenüber wie Went Missing, zu dessen cleverer Dramaturgie ein teilweise gesprochener Text gehört, oder der Opener Forever Chemicals, der so heavy und gewagt wird, dass man fast an Marilyn Manson statt Placebo denken kann. „Ich hatte diese Drum-Machine auf meinem iPad und programmierte einen Beat ein. Dann schaute ich weiter durch das Menü und entdeckte, dass man diese Drum-Machine auf eine ganze Reihe von Orchesterinstrumenten legen konnte. Also legte ich den Drumbeat auf eine Harfe, und dann verzerrte ich ihn und legte etwas Hall drauf – Bäm!“, schildert Molko die Entstehung des wichtigsten Elements darin. „Das ist also ein verzerrter Harfen-Loop, der als programmierter Drumbeat begann. Ich schätze, das war ein Wegweiser dafür, wie wir diese Platte machen wollten.“
Die tatsächlich live eingespielten Schlagzeug-Parts stammen von Matthew Lunn, der zuletzt schon bei den Liveshows von Placebo mitspielte, und Pietro Garrone von der italienischen Band Husky Loops, die sie kürzlich als Vorgruppe verpflichtet hatten. Ihr Enthusiasmus hat sicher auch zum sehr überzeugenden Gesamteindruck dieses Albums beigetragen. Noch wichtiger war aber offensichtlich eine andere Antriebskraft für Placebo: Sie sind noch immer nicht einverstanden mit der Welt.