Protomartyr Formal Growth In The Desert

Protomartyr – „Formal Growth In The Desert“

Künstler*in Protomartyr

Protomartyr Formal Growth In The Desert Review Kritik
Verlust und Durchhalten prägen „Formal Growth In The Desert“.
Album Formal Growth In The Desert
Label Domino
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung Foto oben: (C) Domino / Trevor Naud

Es mag wie ein Widerspruch klingen, aber zu den vielen Erfahrungen, die man mit fortschreitendem Lebensalter hinzugewinnt, gehören eben auch Erfahrungen von Verlust. Joe Casey, Sänger und Texter von Protomartyr, kann davon ein Liedchen singen. Auf Formal Growth In The Desert, dem sechsten Album der Band aus Detroit, geht es unter anderem um das Verschwinden einer vertrauten Heimat und um den Tod seiner Mutter. Es geht aber auch um eine sehr zentrale Sache, die er eben nicht verloren hat: die Freude an der Musik und den Glauben an Protomartyr, die bedingt durch die Corona-Pandemie ebenfalls vor der Frage standen, ob es mehr als zehn Jahre nach dem Debüt No Passion All Technique noch eine Zukunft für sie gab.

„Dass die Band noch existiert, war mir sehr wichtig und hat meine Laune definitiv verbessert“, sagt Casey über die Phase, als seine Mutter nach langem Leiden an Alzheimer gestorben war. „Ich habe versucht, einen Weg nach vorne zu finden, nachdem ich einige ziemlich schwere Dinge erlebt hatte, ohne in den Texten zu sagen: Oh mein Gott, mein Leben ist scheiße“, beschreibt er die Ausgangssituation für das Album. „Ich habe versucht zu sehen, was hinter den Problemen steckt. Je älter man wird, desto klarer wird einem, dass es bei jeder Tragödie auch Momente des Prosaischen gibt – die Zeit bleibt nicht stehen, nur weil man sich ausheulen will.“

Graft Vs Host war das erste Lied, das er mit seinen Bandkollegen Greg Ahee (Gitarre), Alex Leonard (Schlagzeug) und Scott Davidson (Bass) gemeinsam in der Sonic Ranch in Tornillo, Texas einspielte. Es ist das Stück, in dem der Verlust der Mutter am deutlichsten im Zentrum steht. „Meine Mutter würde nicht wollen, dass ich wegen ihres Todes für den Rest meines Lebens deprimiert bin“, hat Casey erkannt, und im Song grübelt er darüber, wie das gelingen kann. Man hört dem Stück die Aufgewühltheit an, die damit einher geht, auch die Wut, die Suche nach einem Ausweg sowie die Lust auf Resignation – und das Wissen, dass genau diese letztlich keine Option ist. Das Thema, „die Traurigkeit hinter mir zu lassen, um zu sehen, ob ich die Liebe in mein Leben lassen kann“, wie Casey es nennt, findet sich dann immer wieder auf Formal Growth In The Desert.

„Can you hate yourself and still deserve love?“, fragt er in Polacrilex Kid, das deutlich macht, wie einzigartig die Ästhetik dieser Band weiterhin ist. Die zentrale Zeile im Album-Schlusspunkt Rain Garden lautet „My love found me“, rund um diese Erkenntnis entwickelt das Quartett eine tolle Dramaturgie. „In diesem Album geht es häufig um Liebe – etwas, das es bei Protomartyr bisher nicht wirklich gab“, sagt der frisch verlobte Casey. The Author führt diese Voraussetzung für Glück, Freude und Harmonie wieder zur verstorbenen Mama zurück: “ If there’s good in me / chant it out to her / she is the author“, heißt es darin.

Dass sich dieses Lied wie eine Steilvorlage für Kopfkino anhört, ist dabei kein Wunder. Greg Ahee, der Formal Growth In The Desert gemeinsam mit Jake Aron produziert hat, komponierte zuletzt mehrere Soundtracks und war stark davon inspiriert. „Ich habe angefangen, zu Hause auf einem Klavier und einem Keyboard zu schreiben und dann zu Kurzfilmen zu spielen und zu beobachten, wie man Stimmungen beim Spielen beeinflussen und verstärken kann“, sagt er.

Man hört das gleich im Auftakt Make Way, der die Ernsthaftigkeit von Nick Cave mit der Härte von Pantera und der Abgründigkeit der Eels vereint und auch noch eine Pedal-Steel-Gitarre obendrauf packt. 3800 Tigers bietet ordentlich Fuzz und viel Theatralik und klingt im Resultat genauso wild wie die hier tatsächlich umgesetzte Idee, Artensterben und Baseball thematisch zu verbinden. We Know The Rats ist ein gutes Beispiel für den spannenden und auf diesem Album häufig zu findenden Kontrast zwischen dem Gesang, der maximal straight ist, und der Musik, die maximal geheimnisvoll ist. Let’s Tip The Creator handelt von der Abneigung gegen neue Technologien und Caseys Verwunderung darüber, „wie die Menschen die Drecksäcke verehren konnten, die diese menschenverachtenden Unternehmen betreiben“. Das Ergebnis klingt wie eine New-Journalism-Reportage, die mit Gitarren und Schlagzeug erzählt wird.

Ohnehin hat bei aller Klasse der Texte auch die Rhythmussektion von Protomartyr wieder einmal großen Anteil am Gelingen von Formal Growth In The Desert. So wird Fulfillment Center von einem sehr ungewöhnlichen Groove getragen, auch in Fun In Hi Skool sind Bass und insbesondere Schlagzeug enorm kreativ und interessant, ohne dass es gewollt kompliziert klingt, sondern genau wie die Musik, die diese Aussage und dieses Gefühl brauchen. For Tomorrow klingt, als hätte jemand Glam Rock durch ein Bad voller Trauigkeit, Säure und politischem Bewusstsein gezogen.

Die Single Elimination Dances zeigt Protomartyr mit seiner schillernden Atmosphäre und vielen Ecken und Kanten als so etwas wie The Clash für das 21. Jahrhundert. Sie haben den Track nach einem Kapitel aus einem Tanzhandbuch für Teenager aus den 1950er Jahren benannt. Darin wird ein Tanz beschrieben, bei dem man ausscheidet, wenn man in einer Runde nicht gut genug getanzt hat. Das erschien Casey als treffende Metapher: So hart das Leben auch sein mag, bis man ausscheidet, kann man getrost weitertanzen.

Zu Polacrilex Kid haben Protomartyr ein Livevideo gemacht.

Website von Protomartyr.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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