Künstler | Protomartyr | |
Album | Relatives In Descent | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Die Blumen, die nur nachts blühen, sind Protomartyr die liebsten, heißt es in einem Lied im letzten Drittel dieses Albums (Night-Blooming Cereus). Das galt schon immer bei diesem Quartett aus Detroit. Auf Relatives In Descent gilt es noch ein bisschen mehr als auf den bisherigen drei Alben, die gerne diverse persönliche Abgründe und Dämonen in den Mittelpunkt stellten. Diesmal werden Sänger Joey Casey, Gitarrist Greg Ahee, Schlagzeuger Alex Leonard und Bassist Scott Davidson ein wenig grundsätzlicher. Das Leitmotiv ihrer neuen Platte ist die undurchdringliche Natur der Wahrheit.
„Ich habe immer geglaubt, die Wahrheit sei etwas, das existiert, und dass es gewisse Wahrheiten gibt, die wir alle teilen, etwa die Schönheit“, sagt Frontmann Joe Casey. „Jetzt wird dieser Glaube langsam aufgelöst. Die Menschen waren nie skeptischer, und es gibt keine gemeinsam geteilte Realität mehr. Vielleicht gab es sie auch nie.“ Schon im Auftakt A Private Understanding findet sich die lyrische Entsprechung dieses Gedankens: „Sorrow’s the wind blowing through / truth is hiding in the wire“, besingt er darin einen Frust, der näher an der Resignation als an der Eruption ist, der um all die Schandtaten weiß, zu denen Menschen fähig sind, aber auch um ihre Größe.
Nick Cave ist weiterhin eine sehr gute Bezugsgröße für Protomartyr, nicht nur wenn es abstrakt, zynisch und pechschwarz wird wie in Up The Tower oder es einen Quasi-Sprechgesang gibt wie in Here Is The Thing, der Casey klingen lässt, als befürchte er, nicht genug Zeit für all das zu haben, was er rüberbringen will. An anderen Stellen wird es exzentrisch und nahe am Wahnsinn eines Frank Black wie im vom Bass geprägten Windsor Hum oder es gibt einen Refrain, der perfekt in die Blütezeit von The Clash gepasst hätte wie in Don’t Go To Anacita, das offenbar nicht von außen gejagt, sondern aus einer inneren Angst heraus angetrieben wird.
Aufgenommen wurde Relatives In Descent innerhalb von zwei Wochen in Los Angeles mit Co-Produzent Sonny DiPerri (Animal Collective, Dirty Projectors), als Gastmusiker haben Tyler Karmen (Geige) und Olivier Demeaux (Synthies) mitgewirkt. Neben der großen atmosphärischen Geschlossenheit profitiert auch dieses Protomartyr-Album von der enormen Kreativität der Rhythmussektion. Fast nirgends ist ein üblicher 4/4-Takt zu hören, ohne dass all die Experimente auf Kosten der Direktheit des Sounds gehen würden.
So steigert sich Corpses In Regalia, befeuert vom Groove des Bass und vom Gift des Gitarrensolos, beinahe in Hysterie hinein. In The Chuckler ist das Schlagzeug so unerbittlich und schnell wie der Puls der Zeit, die hohen Gitarrentöne könnten all die Dinge symbolisieren, die nach unserer ausschließlichen Aufmerksamkeit schreien, der Gesang klingt, als würde er all dem einigermaßen fassungslos gegenüberstehen. Male Plague wird ein klasse Punksong mit Call-and-Response, rotziger Gitarre und viel Verachtung für das eigene Geschlecht.
Sehr typisch für die Themen von Relatives In Descent ist My Children, denn wieder geht es darin um Mühlen, die mahlen, und Räder, die ineinander greifen, ob es uns passt oder nicht. „What’s mine / is now yours / pass on“, heißt der beinahe resignierte Refrain. Half Sister schließt das Album ab, mit einem weiteren Beweis der großen emotionalen Wucht, zu der Protomartyr in der Lage sind: Das Tempo ist vergleichsweise getragen, aber das verleiht der Botschaft und der Atmosphäre eher Nachdruck und Gravitas als dass es Einbußen bei der Intensität bedeuten würde.