Autor | Sebastian Faulks |
Titel | Gesang vom großen Feuer |
Verlag | Schöffling |
Erscheinungsjahr | 1993 |
Bewertung | ***1/2 |
Sebastian Faulks wählt für seinen vierten Roman wieder Frankreich, wieder die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende. Man könnte gelangweilt sein vom Schauplatz und der Kulisse – wenn die Geschichte nicht erneut so „überwältigend und wunderschön, anspruchsvoll, empörend, quälend, schlafraubend“ („The New Yorker“) wäre.
Eigentlich sind es zwei Geschichten, die auf drei Zeitebenen spielen: Es ist die Liebesgeschichte des jungen Engländers Stephen, der 1910 nach Amiens kommt und sich in eine verheiratete Frau verliebt. Und es ist die Geschichte eben jenes Mannes, der wenige Jahre später im Ersten Weltkrieg auf dem Schlachtfeld steht.
Er kämpft nicht, er erträgt einfach bloß alles. Wie stoisch er das sagenhafte Gemetzel hinnimmt, und wie er gleichzeitig ahnt, wie sehr diese apokalyptische Erfahrung seine ganze Generation und die ganze Menschheit erschüttern wird, ist ein Dilemma, das auch einen schwächeren Roman spannend gemacht hätte. Der Grund für die Duldsamkeit des Helden liegt natürlich in der Liebesgeschichte.
Faulks schildert beides gleichermaßen packend und oft gelingt es ihm, mit wenigen Sätzen den ganzen Charakter einer Beziehung klar zu machen. „In der Stadt war Madame Azaire hoch angesehen. Ihrem Mann war sie eine aufmerksame, pflichtbewusste Frau, und mehr verlangte er nicht von ihr; sie liebte ihn nicht, aber er wäre wohl auch in Panik geraten, für ein derart überflüssiges Gefühl verantwortlich gewesen zu sein“, ist so ein Beispiel. Zu Beginn gelangt der Leser auf diese Weise enorm schnell an den Kern der Geschichte. Später, an der Front, ist es eben diese Fähigkeit des Autors, die Flüchtigkeit und gleichzeitige Intensität der Beziehungen der Männer an der Front deutlich zu machen.
„Gesang vom großen Feuer“ wird so, auch durch seine fesselnden, erschütternden Szenen aus den Schützengräben, zu einem Aufschrei gegen den Krieg, vor allem aber gegen das Vergessen. Und noch dramatischer gestalten sich die Liebsszenen. Gerade, weil sie in einer vergleichsweise prüden Zeit spielen, kann Faulks ihnen eine hoch erotische Anzüglichkeit verleihen, die das ganze Ausmaß der hier verschleuderten Leidenschaft wunderbar klar macht. Große Gefühle.
Beste Stelle: „In diesem Augenblick wusste Stephen, dass er nicht nach England zurückkehren würde. Er gestand sich ein, dass bislang die Möglichkeit bestanden hatte, dass seine Gefühle für Isabelle durch das, was sie miteinander im roten Zimmer trieben, abkühlen oder befriedigt werden könnten. Doch jetzt wurde ihm klar, dass es sich um keinen begrenzten Hunger handelte, der sich stillen oder sättigen ließ. Er verzweigte sich und wuchs und veränderte sein Wesen und besetzte Bereiche seines Denkens und Fühlens, die mit dem körperlichen Akt selbst kaum noch etwas zu tun hatten. Er war ihm wichtiger geworden als seine Lebensplanung, als seine Karriere oder seine Pflicht gegenüber seinem Arbeitgeber. Das Gefühl beherrschte ihn jetzt vollständig: bevor er nicht wusste, wohin es führte, würde er keine Ruhe finden. Fast so entscheidend wie seine Zärtlichkeit gegenüber Isabelle war seine überwältigende Neugier.“