Es ist ein Triumph. Das gilt für die gesamte bisherige Nach-Oasis-Karriere von Noel Gallagher, und es gilt auch für diesen Abend. Mit seinen High Flying Birds ist er der Headliner beim zweiten Tag des Pure & Crafted Festivals in Berlin. Es ist kaum zu fassen, wie cool er diese Show bestreitet (man erinnere sich: noch vor fünf Jahren hat Noel Gallagher behauptet, er traue sich die Rolle als Frontmann in der Mitte der Bühne nicht zu). Es gibt erst einmal reichlich Songs der beiden Soloalben, dann nach dem sechsten (!) Lied eine Begrüßung für die Fans in Berlin. Später widmet er Wonderwall einem Zuschauer namens Thomas, der sich zuvor per Zuruf als größter Noel-Fan der Welt bezeichnet hatte. Und er gönnt sich für das Festival, das Rockmusik mit Motorrädern und Lifestyleshopping kombiniert, die mit einem herrlich süffisanten Grinsen vorgetragene Verabschiedung „Safe journey home. On your bikes.“
Dass hier ein Mann mit der Attitüde des „Mir kann keiner was“ auf der Bühne steht, ist unbestreitbar und galt natürlich schon zu Zeiten von Oasis. Das Konzert beim Pure & Crafted Festival zeigt allerdings, dass zwei entscheidende Faktoren hinzugekommen sind: Erstens hat sich, seit er mit seinem Solowerk so souverän punktet, beim 49-Jährigen offensichtlich so etwas wie Gelassenheit eingestellt. Zweitens bekommt er auch für die Lieder, die er mit Oasis gemacht hat, im Rückblick noch mehr Bewunderung als zu Glanzzeiten der Band. Zumindest in Deutschland scheinen einige Musikfreunde erst mit 20 Jahren Verspätung gemerkt zu haben, was für legendäre Songs das waren und wie bedeutend sie immer noch sind. Das zeigt sich nicht nur daran, dass er beim Konzert in Berlin gleich zwei Oasis-B-Seiten (The Masterplan und Half The World Away) und auch einen wenig prominenten Albumtrack (Digsy’s Diner) spielt, die allesamt stürmisch gefeiert werden. Man bemerkt das auch, wenn schon um 16.30 Uhr die ersten Fans mit einer Manchester-City-Fahne vor der Bühne stehen – eine halbe Stunde, bevor dort mit dem Auftritt von Abby überhaupt das Programm beginnt und mehr als vier Stunden, bevor Noel Gallagher spielt.
Die Show ist der unumstrittene Höhepunkt des Wochenendes, das insgesamt 8000 Fans zum Festival lockt. Der zweite Tag im Berliner Postbahnhof bringt aber noch ein paar andere nette Überraschungen. Als sehr gern gesehener heimlicher Stargast hat sich Sonnenschein eingestellt. Frank Carter zeigt mit seinen Rattlesnakes, dass er nicht nur optisch gut zum Pure & Crafted Festival passt. Schon zuvor haben Otherkin aus Dublin auf der Clubstage ihren ersten Deutschland-Auftritt überhaupt hingelegt. Dass Leidenschaft ihr wichtigster Antrieb ist, wird nicht nur während der sehr gelungenen Show deutlich: Nach Mitternacht schaut die Band beim großartigen Punk Rock Karaoke vorbei, erklimmt kurzerhand die Bühne und spielt dort Iggy Pops Lust For Life. Im September kommen sie für fünf Shows erneut nach Deutschland – da sollte man unbedingt hin – meinetwegen auch mit dem Motorrad.