Raf Rundell – „Stop Lying“

Künstler Raf Rundell

Stop Lying Raf Rundell Review Kritik
„Stop Lying“ – das gilt privat und politisch.
Album Stop Lying
Label 1965 Records
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Es klingt wie der unspektakulärste Track auf diesem Album, wie ein nicht ganz ausgereiftes Quasi-Intro. Aber Stop Lying, das am Anfang der neuen Platte von Raf Rundell steht, ist nicht nur der Titeltrack, sondern verweist tatsächlich auf die Essenz dessen, was den Nachfolger seiner Mini-LP The Adventures Of Selfie Boy Part 1 am meisten prägt: seine fast schizophrene Position als einerseits gefragter Musiker (solo und gemeinsam mit Joe Goddard von Hot Chip als 2 Bears) und andererseits als normaler Mann im Süden Londons, der gerade zum zweiten Mal Vater geworden ist.

„Es ist eine ziemlich häusliche Platte. Der Anfang enthält die Geräusche, wenn ich morgens um 6 Uhr von einem DJ-Gig nach Hause komme. Man hört Vogelzwitschern und einen Schlüsselbund. Dann bin ich im Haus und habe sofort eine andere Rolle: Ich bin ein Vater, mit allen Hochs und Tiefs, die damit verbunden sind. Zwei Stunden vorher habe ich noch Musik für die Gestalten der Nacht gespielt, jetzt bin ich zuhause und gebe dem Baby das Fläschchen. Vor diesem Hintergrund ist die Platte entstanden. Es ist der Klang eines verängstigten, sentimentalen Mannes mittleren Alters – falls dieser Mann eben ein DJ ist, der ab und zu in einem alten Schwulen-Verlies unter der City Road auflegt“, sagt Raf Rundell.

Im Albumtitel sieht er zudem ein verbindendes Element zwischen seinen häuslichen Pflichten, dem Leben als Musiker und seinem Blick auf den Zustand der Welt. „Stop Lying scheint mir eine sehr zeitgemäße Aufforderung zu sein. Es ist mein regelmäßiges Flehen um Hilfe und Vernunft“, sagt er. Bei der letzten Parlamentswahl in England fand er diesen Aufschrei angebracht, beim Fernsehen, bei der Erziehung seiner Kinder. Entsprechend kann man in diesen neun Liedern beschauliche Momente ebenso finden wie Empörung.

Im heiteren Every Morning könnte man meinen, die Stimme von Damon Albarn würde sich an besonderer Schönschrift versuchen. Zu einem federnden Beat, Trompete und einem Klavier mit Latin-Anklängen heißt es selig: „Now the sun shines in / every morning when I wake.“ Das folgende Within Without ist zunächst schläfrig und bleibt auch dann noch behutsam, als erst der Bass für deutlich mehr Präsenz sorgt, später dann durch immer weitere Elemente sogar fast so etwas wie Opulenz erreicht ist. In Ric Flair wird die Stimme für den Sprechgesang tiefergelegt und die Atmosphäre heruntergekühlt. Accept & Proceed wirkt etwas durchgeknallt, nicht nur im Sound, sondern auch in der Idee, diese Handlungsschritte aus einer Nutzerführung vielleicht einfach zur Lebensmaxime zu machen.

„Ich empfinde die Welt gerade als unfassbar verwirrend – und damit bin ich wahrscheinlich nicht alleine. Ich erkenne nach und nach, dass jeder einen Bereich braucht, in dem er seine Leidenschaften ausleben kann. Ich sehe das bei Partys und in Nachtclubs, aber auch in der Kneipe oder beim Fußball in Crystal Palace. Für die Menschen sind diese Orte wie ein Ventil (…), dort können sie sie selbst sein“, beschreibt Raf Rundell eine weitere wichtige Erkenntnis, die Stop Lying geprägt hat. Sehr hörbar will er hier Futter für solche Momente liefern: Sweet Cheeks passt von allen Tracks am besten in die Disco, will aber nicht nur Spaß machen, sondern auch Lebensmut zusprechen. Falling Out ahmt extrem stilecht den Tanzflächensound der frühen Eighties nach und würde etwa zu den Pet Shop Boys passen, auch wegen seiner kleinen Prise an Melancholie. „Step out of the future / your view will be clearer”, lautet die Empfehlung in Kinder Nature, in dem das clevere Spiel mit Repitition und Variation beweist: Hippie geht auch ohne Lagerfeuer-Gitarre.

In Control beendet das Album sehr nachdenklich und überrascht mit einem Arrangement nur mit Klavier und Gesang, das letztlich perfekt zum Thema des Songs passt: Raf Rundell liefert hier einen kritischen Blick auf Technologie und Tempo unserer Zeit, und er schlägt auch damit die Brücke vom Privaten zum Politischen. Diese Idee ist vielleicht die größte Stärke von Stop Lying, die auch im von Ben Edge gemalten Albumcover aufgegriffen wird, wie Raf Rundell erklärt: „Es ist ein Porträt mit viel Symbolik. Ich stehe in der Mitte des Grundstücks, auf dem ich wohne, umgeben von Dämonen, all den Gestalten, die in dein Sichtfeld schwirren, sobald die Sonne aufgeht. Eine davon hat eine Discokugel als Kopf und hält eine Babyflasche – ich muss gestehen, dass ich mich ab und zu so gefühlt habe.“

Das Video zu Sweet Cheeks scheint erklären zu wollen, was „camp“ bedeutet.

Raf Rundell bei Facebook.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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