Künstler | Raketkanon | |
Album | RKTKN#3 | |
Label | Alcopop Records | |
Erscheinungsjahr | 2019 | |
Bewertung |
„Ich hoffe, die nächste Platte wird nicht so sein wie diese.“ Wenn Sänger Pieter-Paul Devos so eine Aussage über das gerade erschienene dritte Album von Raketkanon tätigt, dann sollte man nicht glauben, er wäre unzufrieden mit den Ergebnissen von RKTKN#3. Ganz im Gegenteil: Im Vergleich zum bisherigen Schaffen der Band aus Gent in Belgien hält er das Werk für deutlich vielseitiger. „In gewisser Weise haben wir uns und unsere Fähigkeiten unter Druck gesetzt. Wir haben gelernt, was wir musikalisch im Stande sind zu tun, und haben uns bis zum Äußersten gepusht. Wir haben versucht zu spüren, was die Grenzen dieser Arbeitsweise sind. Und wir haben uns dabei rundum erneuert“, sagt er.
Man findet die Bestätigung dafür in Tracks wie Harry, das Elektropunk im Stile von Prodigy liefert, man erkennt darin auch eine Lust auf Freigeistiges und Extremes, wie sie etwa auch PIL ausleben. Im Album-Auftakt Ricky ist die wichtigste Frage, ob dieses tiefe Monster-Riff von der Gitarre oder aus dem Synthesizer kommt, die Musik rund um dieses Rätsel bietet zudem eine sehr ungewöhnliche Interpretation der üblichen Laut-Leise-Dynamik. In Lou ist die Stimme von Devos bloß ein Hauchen, danach entwickelt der Song etwas Filmmusik-Charakter, bevor alle Instrumente in den Wucht-Modus schalten. Dann legen Jef Verbeeck (Gitarre), Lode Vlaeminck (Synthesizer) und Pieter De Wilde (Schlagzeug) noch einmal eine Schippe drauf, ebenso wie der Gesang, und landen in der Nähe eines Infernos.
Das ist überzeugend und spannend und wird Fans der Band, die sich sehr treffend nach dem flämischen Wort für „Raketenwerfer“ benannt hat, definitiv gefallen. Dass der Frontmann fürs nächste Mal trotzdem einen ganz anderen Sound will, hängt mit seinem Streben nach Erneuerung zusammen. „Wir wollen nicht nur eine Metal-Band oder eine Hardrock-Band sein. Wir wollen einfach Musik machen, die wir für schön und aufrichtig halten“, sagt Pieter-Paul Devos. „Es gibt nichts Schrecklicheres, als etwas aus dem gleichen Bereich der Kunst zu nehmen, in dem man selbst tätig ist, es eins zu eins zu kopieren und dann ‚Inspiration‘ zu nennen. Es ist viel mehr wert, Risiken einzugehen und alles loszulassen, was man weiß, um so neue Dinge zu erforschen. Ich sage nicht, dass wir das Rad neu erfunden haben. Aber wir können immerhin von uns behaupten, dass wir künstlerisch gewachsen sind.“
Die wichtigiste Neuerung beim Quartett, das unter anderem Iggy Pop zu seinen Fans zählen darf und beim Vorgänger-Album mit Star-Produzent Steve Albini zusammenarbeitete, ist die deutlich prominentere Rolle der Tasteninstrumente, manchmal auf Kosten der Gitarre, manchmal als Partner in Crime für sie. Neben den schon erwähnten Stücken ist Hannibal ein gutes Beispiel dafür: Über weite Strecken hört man nur einen beunruhigenden Rhythmus wie von einem Metronom, dann gibt es zweimal eine Eruption. Die klingt sowohl nach dem Hannibal, der mit Elefanten über die Alpen kommen wollte, als auch nach dem, der Lust auf Menschenfleisch hat. Die schleppende Wucht am Beginn von Ernest würde zu Soundgarden passen, am Ende erinnert der Song eher an Muse, durchaus auch mit Lust auf deren Theatralik. In Mélody bleibt die Gitarre ausnahmsweise akustisch, der Gesang ist sinister, die Keyboards wollen nur vordergründig Melodie und Struktur hineinbringen – vielmehr erkennt man, dass sie erst recht verstörend wirken.
„Es ist alles ziemlich spontan passiert“, sagt Devos zu diesem neuen Sound. „Im Laufe der Jahre hat Lode die Welt seines Instruments viel intensiver erforscht. Das Besondere an einem Synthesizer ist, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, Sounds zu kreieren – wenn man ihn richtig spielen kann, können so viele erstaunliche und magische Dinge passieren. Obwohl Jefs Gitarre auch ein sehr dominantes Instrument in der Band ist, sind wir nicht der Meinung, dass eine Rockband bei jedem Song durchgehend Gitarren haben muss.“
Mindestens ebenso faszinierend wie diese Klangexperimente ist weiterhin seine Eigenheit, in einer Fantasiesprache zu singen, die klingt, als habe man einem Sprachcomputer ein paar englische Silben beigebracht, aber keinerlei Logik, nach der er sie zusammenfügen kann. Robin illustriert das: Nach einem Lofi-Beginn nuschelt Devos einen Begriff, der „suicide“ heißen könnte, oder „silver stride“ oder „someone’s high“ oder „still in line“. Die permanente Wiederholung sorgt in jedem Fall dafür, dass dieser Begriff wenig Erfreuliches verheißt, auch wenn die Musik in diesem Song vergleichsweise harmlos bleibt. Der Gesang in den ersten Sekunden von Fons klingt wie die Schreie von traumatisierten Geisteskranken, die sehr lange gelitten haben und nun versuchen, sich Frohsinn einzureden. Passend dazu sehen Raketkanon auf einem der Pressefotos zu RKTKN#3 aus wie die letzten Überlebenden des Dreißigjährigen Kriegs. In Mido platziert Devos wieder sein markantes Flüstern inmitten einer sehr bedrohlichen Atmosphäre, als würde der Kurt Cobain aus In Utero-Zeiten eine Sprecherziehung durchlaufen.
Dass er absichtlich Kauderwelsch singt, kann Devos bestens begründen, und fasst damit zugleich den Appeal von Raketkanon zusammen: „Es ist wie dieses Gefühl, wenn Kinder zu einem Song mitsingen, aber die Texte nicht verstehen, also ihren eigenen Sound bilden. Ich finde es schön, dass die Leute auf Konzerten oft so mitsingen. Ich denke, dass die Erfahrung einer Person mit Musik frei sein sollte. (…) In unserer Musik geht es mehr um die instinktiven Emotionen, die man fühlt, wenn man die Songs hört.“