Real Estate – „Half A Human“

Künstler Real Estate

Real Estate Half A Human Review Kritik
Real Estate liefern mit „Half A Human“ ein Follow-Up zum letzten Album.
EP Half A Human
Label Domino
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Sebstreflexion, ein Hang zum Grübeln, eine ausgeprägte Skepsis gegenüber den Routinen der unmittelbaren Lebensumgebung und ein damit einhergehender Wunsch nach Ausbruch und Fernweh: All das haben verschiedene Kritiker immer wieder in der Musik von Real Estate erkannt, schon seit Erscheinen ihres Debütalbums 2009. Man muss nicht allzu kreativ sein, um festzustellen, wie gut diese Eigenschaften auch zur aktuellen Pandemie-Situation passen. Die Band aus New Jersey hat das wohl auch selbst schnell erkannt. Half A Human ist so etwas wie ihre Corona-EP.

Denn Lockdown, nicht mehr verfügbare Auftrittsmöglichkeiten und Social Distancing haben sich 2020 erheblich auf Martin Courtney (Gesang, Gitarre), Alex Bleeker (Bass, Gesang), Matt Kallman (Keyboards) und Julian Lynch (Gitarre) ausgewirkt. Es gab in der Geschichte von Real Estate vorher noch nie ein Jahr, indem sie nicht ständig zueinander Kontakt hatten, auf Tour, bei Plattenaufnahmen oder einfach als Kumpels. Sie haben darauf mit zwei Maßnahmen reagiert. Die erste ist die Entwicklung eines Formats namens The Quarantour, das ein Konzertelebnis mittels Augmented Reality möglich macht. Die zweite sind die sechs neuen, hier versammelten Songs, deren Grundzüge während der Aufnahmen für das Album The Main Thing (2020) entstanden sind.

Mit einer angepassten Arbeitsweise wurden aus diesen Ideen nun fertige Aufnahmen. Desire Path eröffnet die EP als instrumentales, betont ruhiges Quasi-Intro, am Ende dieser knapp anderthalb Minuten scheinen sogar Flöten zu ertönen. Den folgenden Titelsong Half A Human könnten Fans von Real Estate schon aus Konzerten kennen, wo die Band ihn bereits wiederholt gespielt hat. Kein Wunder: Der Text handelt von der Entfremdung gegenüber der echten Welt, die man empfinden kann, wenn man auf Tour ist (“I could be anywhere”, heißt eine zentrale Zeile). Die nun ausgearbeitete Version zeigt umso mehr: So ein Gefühl kann sich auch während einer Pandemie einstellen. Das Quartett setzt das um mit einem schwelgerischen Schimmern und einer gebrochenen Strahlkraft, die an The Shins erinnert, und findet eine gute Balance zwischen Sehnsucht, Selbstvergessenheit und tatsächlicher Orientierungslosigkeit.

Bei In The Garden kann man an Nada Surf denken: Der Song ist sehr hübsch, begnügt sich über eine Dauer von fast sechseinhalb Minuten aber nicht mit diesem Attribut. D+, geschrieben und gesungen von Bassist Alex Bleeker, könnten hingegen wohl nur FBI-Experten fälschungssicher von einem Neil-Young-Song aus den späten Sixties unterscheiden (obwohl es im Text um die Folgen von 9/11 geht). Ribbon zeigt wieder sehr schön das Talent von Real Estate, an der Oberfläche wohlig und einnehmend zu klingen, dahinter aber viele durchaus ungewöhnliche Ideen zu verbergen. Das kann auf dieser EP allerdings manchmal auch etwas selbstverliebt wirken, was in Soon am deutlichsten wird: Das Stück ist nicht direkt sperrig, aber kryptisch vor allem durch den ungewöhnlichen Takt und die freigeistige Leadgitarre inmitten einer sehr schönen Atmosphäre.

Unzweifelhaft ist Half A Human für Real Estate auch ein Dokument der Selbstvergewisserung, eine Brücke in die hoffentlich nicht allzu ferne Zeit, in der ein normales Leben (als Band und darüber hinaus) wieder möglich sein wird. Martin Courtney sagt: “Das Leben verändert sich, ständig kommen neue Verantwortlichkeiten und Belastungen hinzu, aber unsere Band ist noch da. Als ich viele dieser Songs geschrieben habe, fühlte es sich ein wenig seltsam an, in einer Band zu sein. Im Sinne von ‚Wieso gibt es so etwas überhaupt noch?‘ Es kam mir albern vor, und zugleich schlüssig. Schließlich ist es das, worin wir gut sind, was wir lieben und was wir weiterhin machen wollen.“

Das Video zu Half A Human vereint Psychedelik mit 4-Bit-Ästhetik.

Website von Real Estate.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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