Es ist kurz vor 21 Uhr in Leipzig, Rue Royale haben gerade acht Lieder bei der ersten Show ihrer aktuellen Tour gespielt, als Ruth Dekker feststellt: „Oh my God, it’s the vote time!“ Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Theresa May hat die Abstimmung im britischen Unterhaus verloren, ihr Vorschlag für einen Brexit-Deal wurde abgelehnt.
Für Ruth Dekker sind das noch wichtigere Nachrichten als für alle anderen an diesem Abend in der anständig besuchten Moritzbastei. Sie ist Britin, spielt gerade ein Konzert in Deutschland mit einer Band, die einen französischen Namen und als zweites Mitglied ihren Ehemann Brookln hat, einen Amerikaner. Gemeinsam mit ihm hat sie mehr als 1000 Konzerte in 16 Ländern gespielt. Man darf also davon ausgehen, dass ihr Internationalität am Herzen liegt und dass sie mit der Idee, sich irgendwo einzubuddeln und im eigenen Saft zu schmoren, wie es die Brexiteers propagieren, ein Problem haben würde.
Rue Royale äußern sich in Leipzig nicht zu ihrer Position zum Brexit (stattdessen gibt es kurz vor der Zugabe eine eigene Abstimmung im Saal hinsichtlich der Frage, welche Teile des Publikums beim Wort „Graceland“ eher an Paul Simon denken wie Ruth oder eher an Elvis Presley wie Brookln). Zum im Herbst veröffentlichten Album In Parallel, ihrem vierten Longplayer, hatten sie allerdings bestätigt, dass sie es schwierig finden, in einer Blase zu leben, denn genau dort waren sie als Musiker im Jahr 2014 selbst gelandet: „Wir kamen vom Touren nach Hause und stellten fest, dass wir uns von der ‚realen Welt‘ aus Freund_innen und Familie abgeschottet hatten“, gab Ruth Dekker da zu Protokoll.
Diese Erkenntnis war wohl einer der Gründe, warum Rue Royale damals beschlossen, nicht sofort eine neue Platte zu machen und gleich wieder auf Tour zu gehen. Der zweite Grund war die Geburt ihrer Tochter, ebenfalls 2014. Sie ist nun mit auf Reisen, verrät Brookln Dekker in Leipzig, ebenso wie seine Mutter, die sich um die Kleine kümmert, während die Eltern auf der Bühne stehen.
Lustigerweise heißt die erste Zeile des Konzerts dann „I was somebody’s baby“, als Pull Me Like A String die Show eröffnet, schon bei Signs Are All Gone als drittem Song in Leipzig ist klar, was diesen Abend auszeichnen wird: Rue Royale, die zur Album-Veröffentlichung noch mit Schlagzeuger auf Tour waren, haben diesmal nur zwei Gitarren, zwei Trommeln und Ruth Dekkers Tasteninstrument, ergänzt um ein paar Rasseln, im Gepäck. Dass insbesondere das aktuelle Album mehr Fokus auf Rhythmus legt, wird so durchaus zur Herausforderung in der Live-Umsetzung, führt aber zu einem interessanten Effekt: Bei vielen Liedern tippt Brookln Dekker mit dem rechten Fuß auf ein Pedal, das für den Sound der Bass Drum sorgt, seine Gattin Ruth schlägt mit dem Drumstick in der rechten Hand auf eine Snare, die diesen Beat komplettiert. Das ist natürlich ein sehr romantisches Bild für die perfekte (nicht nur musikalische) Harmonie in einer Beziehung, ebenso wirft es die Frage auf, wer in dieser Band (und in dieser Ehe) den Takt vorgibt.
Eine Antwort darauf lässt sich in Leipzig kaum finden. Beim Gesang ebenso wie in den instrumentalen Passagen erscheinen Rue Royale vollkommen gleichberechtigt, das gilt auch für die meist sehr schüchternen Ansagen. „You lot calm me down“, sagt Brookln Dekker nach rund einer Viertelstunde, für die Nervosität zuvor hatte nicht Lampenfieber gesorgt, sondern der Trubel, wenn man mit einer Vierjährigen auf Tour ist.
Den Sound von Rue Royale, der im Kern aus akustischem Singer-Songwriter-Material besteht, auch zu zweit auf der Bühne mit dem nötigen Vorwärtsdrang zu versehen, gelingt indes gut. Manche Passagen dieses Konzerts wären gut tanzbar, in den besten Momenten werden die Songs gerade durch den Versuch, aus dem überschaubaren Equipment ein Maximum an Tiefe und Rhythmus herauszuholen, sehr spannend und lebendig, wie etwa U.F.O., das die Show in der Moritzbastei abschließt.
Allerdings wird in Leipzig auch klar: Dieses Setting verzeiht keine Fehler und Ungenauigkeiten, von denen es durchaus ein paar gibt. In einigen Momenten würde man sich wünschen, Rue Royale setzten einfach auf ein paar Loops aus der Konserve und könnten sich dann umso stärker auf die anderen Instrumente konzentrieren, vor allem aber auf die Nuancen im Gesang. Denn auch das zeigt diese Show: In den Jahren seit ihrer Gründung 2006 (damals lebten sie noch in Chicago, heute in Nottingham) haben Brookln und Ruth Dekker viele kluge Zeilen, schöne Melodien und gute Songs hervorgebracht. Was sie von vergleichbaren Acts abhebt, ist aber nach wie vor das grandiose Zusammenspiel dieser zwei wundervollen Stimmen. Gemeinsam sind sie noch viel mehr als die Summe ihrer Teile – eine Botschaft, die man an diesem Abend gerne auch zu Theresa May und ins Unterhaus gesandt hätte.
Die weiteren Tourdaten von Rue Royale:
13.03.2019 – Berlin, Privatclub
14.03.2019 – Hamburg, MS Stubnitz
15.03.2019 – Dortmund, Pauluskirche
16.03.2019 – Darmstadt, Bedroomdisco Kirchenkonzert