Künstler | Say Anything | |
Album | Oliver Appropriate | |
Label | Dine Alone | |
Erscheinungsjahr | 2019 | |
Bewertung |
Oliver, der Titelheld dieses Albums, ist Sänger einer Band. Aus Witz küsst er bei einer Party einen Mann, aus diesem vermeintlich ironischen Flirt werden im Verlauf von Oliver Appropriate aber echte Gefühle. Am Ende erweist sich diese nur zwei Tage währende Liebesgeschichte als tödlich.
Dieser Plot wäre interessant genu, um eine Platte zu tragen. Im Falle von Say Anything kommt aber noch ein mindestens ebenso wichtiger Kontext hinzu. Oliver Appropriate ist die Fortsetzung von Is A Real Boy, dem Album, mit dem die Band 2004 die Emo-Welt in Aufruhr versetzte. Wie Frontmann Maxim Adam Bemis jetzt verrät, hatte er Oliver schon damals im Hinterkopf und sang die Stücke (auch wenn sie für autobiografisch gehalten wurden) aus der Perspektive dieser fiktiven Figur.
Das ist nicht die einzige spannende Nachricht, die er für die Fans der Band aus Los Angeles parat hat. Oliver Appropriate kündigt er als Ende der „ersten Ära von Say Anything” an, also als vorläufiges Ende. Als Gründe führt er unter anderem seine bipolare Störung an, sein jüngstes Coming Out als bisexuell (er ist seit zehn Jahren verheiratet und hat drei Kinder, berichtet aber von ähnlichen Erfahrungen mit Männern wie Oliver), die nicht mehr vorhandende Bereitschaft, sich das nervtötende Leben auf Tour anzutun und den Wunsch, sich stärker auf seine Karriere als Comicschreiber konzentrieren zu können.
Dass dies kein leichtfertiger Entschluss war, darf man bei einem so introvertierten Künstler voraussetzen. Unterstrichen wird es von einem fast 4000 Wörter langen Begleittext, den er im August veröffentlichte und der Passagen wie diese enthält: „So yeah, I’m a queer, Jewish, Christian skeptic pseudo-anarchist with a belief in metaphysics and the application of ‚magical‘ stuff. Woof.“
Schräg? Verschroben? Hypersensibel? Aber hallo! Es sind natürlich auch diese Eigenschaften, die den Reiz von Say Anything ausmachen, und die sich hier erneut in aller Pracht entfalten dürfen. The Band Fuel eröffnet das Album im schlimm verkaterten Zustand, es ist die Sorte von Kater, die dir sagt: „Oh Mann, ich muss wirklich mein Leben in den Griff kriegen!“ Greased braucht nur akustische Gitarre und Gesang, um eine fast psychotische Atmosphäre zu erzeugen. Send You Off wird einerseits besonders explizit („Actually I don‘t know how this works / this confusing spectrum of modern sexuality“, heißt eine Zeile), zeigt andererseits aber auch etwas Selbstironie.
Die ist auch nötig angesichts des Charakters von Oliver, der sonst eine nur schwer zu ertragende Figur wäre. Max Bemis beschreibt ihn in seinem Manifest (ebenso wie in den Texten des Albums) als einen latent homphoben Menschen voller Selbsthass. „Ich habe viel über die Psychologie von Soziopathen gelesen, und danach war es mein Ziel, Empathie für jemanden empfinden zu können, den ich normalerweise hassen würde“, erzählt er. Zu den wichtigsten Einflüssen für Oliver Appropriate gehören auch „ein jahrelanger, Heath-Ledger-mäßiger Niedergang hinein in Schmerz, Dunkelheit und Antidepressiva“, wie er es nennt, sowie das Album Alex I Am Nothing von Museum Mouth. Deren Sänger Karl Kuehn ist hier als Schlagzeuger und Sänger im Einsatz und eindeutig so etwas wie eine Muse für Max Bemis geworden.
Die zweite Stimme verleiht beispielsweise Mouthbreather einen besonderen Reiz. In Your Father wirkt sie geradezu niedlich und krönt einen Song, der insgesamt sehr einfallsreich und auffallend eingängig ist. Kongenial wird sie in The Hardest, das sich als Duett im Todesrausch erweist, bei dem einer der Partner schon im Jenseits angekommen ist.
Die emotionale Bandbreite ist enorm, sie reicht von unternehmungslustig (Daze) über trotzig (When I’m Acid) bis hin zu konsterniert (Fired). Ebenso groß ist das musikalische Spektrum. In Pink Snot darf sich eine recht heavy E-Gitarre hinzugesellen, aus der Frage, auf welchem Wege man Drogen am besten in seinen Körper befördern sollte, wird dabei schließlich ein Liebeslied an Pillen. It’s A Process überrascht mit einem elektronischen Beat und vergleichsweise opulentem Arrangement, wie es beispielsweise auch von Placebo vorstellbar wäre. Bei Ew Jersey stecken Rhythmus und Kraft viel mehr in der Gitarre als im spartanischen Beat.
Captive Audience hat ein prominentes Klavier und integriert sogar eine kurze Streicher-Passage, ebenso wie Geschrei. Es wird das Lied, in dem das von Will Yip produzierte Oliver Appropriate am meisten nach Musical oder zumindest Rock-Oper klingt. Sediment schließt das Album extrem aufwühlend ab. Dieser Gesang wird niemanden kalt lassen, Gleiches gilt für das gesprochene Ende. Es ist ein perfekter Schlusspunkt für dieses Album, vielleicht auch für diese Band. Die Möglichkeit eines Comebacks schließ Max Bemis zwar nicht aus, sein Manifest ist da aber doch recht eindeutig: „Say Anything war ein romantischer, von Herzen kommender Scherz. Einer, der die Frage stelle: Wie lange dauert es wohl, bis ein Neurotiker wirklich zusammenbricht? Es ist lustig zu sehen, wie viel ich ertragen konnte, bevor ich entweder sterben oder einfach ‚Scheiß drauf‘ sagen würde. Die Antwort ist … es hat genau bis jetzt gedauert.“