Schraubenyeti – „Heute. Gestern.“

Künstler Schraubenyeti

Schraubenyeti Heute Gestern Review Kritik
Über Crowdfunding hat der Schraubenyeti sein zweites Album finanziert.
Album heute. gestern.
Label Kick The Flame
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Vorgestern hat der Schraubenyeti sein neues Album bei einem Release-Konzert in Leipzig vorgestellt, gestern ist die Platte offiziell erschienen und schon heute beginnt der Mann, der bürgerlich Martin Lischke heißt und aus dem brandenburgischen Spremberg stammt, seine Tour zu heute. gestern. Das ist typisch für ihn: Live fühlt er sich am wohlsten, und als Bühne reicht ihm jeder Fleck, auf dem genug Platz für ein Klavier ist. Unterwegs heißt passenderweise das zweite Lied des Albums mit der zentralen Zeile „Ich muss wieder auf die Straße.“

Die Rolle als Vagabund und Matrose nehmen viele Musiker gerne ein, aber wenige erfüllen sie so glaubwürdig wie der Schraubenyeti. So hat er beispielsweise einen VW-Bus umgebaut, um sein (mit Rollen ausgestattetes) Klavier bequem transportieren und auf Schienen ein- und ausladen zu können. 2015 reiste er vier Monate lang durch Australien (Ergebnis war nicht nur die EP Out Of Rooteeny, sondern auch die Zusammenarbeit mit der Liveband, die ihn als Das Mammut jetzt auch bei den Aufnahmen im Leipziger Off The Record Studio begleitet hat), für heute.gestern. spielt er innerhalb der ersten zwei Wochen nach Erscheinen der Platte satte 13 Konzerte von Mannheim bis Greifswald.

Die Platte ist ein Konzeptalbum: Zu jedem der acht Songs auf der Hälfte heute gibt es ein Gegenstück auf gestern. Das muss man nicht unbedingt wissen, um Gefallen am Schraubenyeti („Ich bin gelernter Maschinenbauer und schraube in meiner Freizeit gerne an alten Motorrädern. Meine Freunde behaupten, ich hätte ungewöhnlich viele Haare auf den Füßen, wie ein Yeti“, erklärt Martin Lischke diesen Spitznamen) zu finden. Wer Geschichten aus dem Leben mag, mit Haltung, Sinn für Humor und einer Portion Tragik, der wird hier in jedem Fall seine Freude haben. Ein Pluspunkt ist auch die üppigere Instrumentierung mt Schlagzeug, Bass und gelegentlich auch Streichern und Bläsern, nachdem der heute 29-Jährige sein Debütalbum Ein Tier am Klavier noch weitgehend alleine mit eben diesem Instrument eingespielt hatte (das schon erwähnte Unterwegs war da übrigens auch schon drauf).

Lischke sinniert darüber, was wir für seltsame Rituale brauchen, um uns zu vertrauen (Sag es mir), singt über einen unerwarteten Abschied, nach dem sich eine ebenso unerwartete Sehnsucht einstellt (Das letzte Bier), oder von einer Partynacht, in der alles möglich scheint, außer Verbindlichkeit (Gar nicht mal so gut). Was manchmal fehlt, ist ein bisschen mehr Variation, Tempo und Sound sind oft ähnlich, auch ein Song, der ein wenig aus den anderen herausragt, hätte der Platte sehr gut getan.

Eine große Rolle auf dem Album, das per Crowdfunding finanziert wurde, spielt Freundschaft. Wie geil beteuert die Unzertrennlichkeit zwischen zwei Freunden, auch deshalb, weil sie bei einer so engen Verbindung manchmal allzu selbstverständlich erscheinen kann. Dazu gibt es einen sehr originellen Groove, den der Schraubenyeti vielleicht bei Alliagtoah gelernt hat: Er war einer der Straßenmusiker, mit denen der Rapper für die Deluxe-Version seines Albums Musik ist keine Lösung die eigenen Stücke neu interpretiert hat. Als alles begann erzählt mit großer Entschlossenheit von einem Wiedersehen nach langer Zeit, vom Erkennen von Vertrautheit und dem Versuch, die Größe der möglicherweise in der Zwischenzeit entstandenen Unterschiede herauszufinden. Das rätselhafte Krieger (feat. Rany) scheint eine Verbrüderung manifestieren zu wollen, Nie gesagt wird offensichtlich ein Dankeschön und Treueschwur, „Egal, wohin ich mit euch lauf, da ist zuhaue“, ruft der Schraubenyeti in Mann und Maus wohl seinen engsten Freunden unter den Nachtschwärmern zu.

Diese Position als Nacht- und Kneipenmensch ist das zweite wichtige Leitmotiv der Platte. Schon im Titelsong ganz zu Beginn ist das offenkundig: heute. gestern. wird ein romantischer Blick auf unsere Unfähigkeit, sich zu etwas Dauerhaftem bekennen zu können, das Ergebnis klingt ein wenig wie Mumford & Sons mit Hirn. An anderen Stellen, etwa im schwungvollen Von hier ab jetzt kann man an Keane oder seine brandenburgischen Landsleute von Virginia Jetzt denken. Aorta des Wals ist ein Beispiel für die ungewöhnlichen Metaphern, die der laut Jury des Deutschen Rock- und Pop-Preises „beste Singer-Songwriter Deutschlands“ finden kann. Nackt in Kontakt (feat. Miss Rockester) macht deutlich, dass er wohl kein Fan von Tinder ist, von der Station 4 scheint er zum Abschluss von heute. gestern. noch halb in Narkose zu singen, mit Jakob bleib gibt es auch einen explizit politischen Moment auf diesem Album, der sich gegen Engstirnigkeit, Vorurteile sowie die Angst vor Fremde und Fremden richtet. Mit Richtig falsch scheint der Schraubenyeti eine herbe Schlappe für seine eigene Menschenkenntnis zu verarbeiten, über die er aber zugleich schon weitgehend hinweg zu sein scheint. Er weiß wohl: Solche Fehler können eben passieren, wenn man viel unterwegs ist.

Der Schraubenyeti berichtet über die Idee zu heute. gestern.

Die Tourdaten des Schraubenyeti.

13.10. – Nachtflohmarkt Düsseldorf
14.10. – Theater Die Wohngemeinschaft Köln
15.10. – Live Club Bamberg
16.10. – Ludwigs Nürnberg
17.10. – Realitätsverlust Bürokonzert Reichenbach
18.10. – Ostpol Dresden
19.10. – Filmwerk Helmbrechts
20.10. – Nachtflohmarkt München
23.10. – Kaffeeschuppen Halle
24.10. – Kulturbar Greifswald
25.10. – Angler II Schwerin
26.10. – Wohnzimmerkonzert Bielefeld
09.11. – Mehlboden Görlitz
10.11. – Sound of Liedermaching Kronenkino Zittau
11.11. – Salon Irkutsk München
14.11. – Heimat Regensburg
16.11. – ART Stalker Berlin
17.11. – Tonzimmer Würzburg
18.11. – Ko’Ono Konstanz

Website des Schraubenyeti.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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