Künstler | Sébastien Tellier | |
Album | Domesticated | |
Label | Record Makers | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Wahrscheinlich kann Sébastien Tellier, der mit Domesticated heute sein sechstes Studioalbum vorlegt, auf die ungewöhnlichste Inspirationsquelle für eine neue Platte verweisen, von der man in diesem Jahr hören wird: Es ist ein Toaster.
Er steht bei ihm in der Küche, und er machte ihm eines Tages klar, wie sehr sich sein Leben verändert hat. „Ich hörte einfach nur ein wenig Musik, und mit einem Mal fielen mir all die Alltagsgegenstände auf, die mich umgaben“, erzählt er. Sie symbolisieren das Ende des Lebensabschnitts, in dem er ein Herumtreiber und „einsamer Wolf“ war, wie er sagt, und die Gegenwart dessen, was der Albumtitel schon andeutet: Nach den wilden Jahren erlebte er das, was so viele von uns erleben: Verliebt, verlobt, verheiratet, Familienvater – ruhiger, braver, regelmäßiger. „Domestizierung ist etwas Universelles: Eine Erfahrung, die wir alle machen“, sagt der 45-Jährige, der darin keineswegs etwas Negatives sehen will, sondern ein Ankommen. „Das Leben ist toll! Ich fühle mich, als hätte ich erst angefangen zu leben – wirklich zu leben! Dass ich mehr bin als bloß dieser Wolf. Da ist jetzt so etwas Warmes… eine Bestimmung.“
Natürlich stellt sich da schnell die Frage: Kann ein Album über das Gemütlichwerden interessant sein? Will man lieber Platten von Schoßhündchen hören als von einsamen Wölfen? Welche Berechtigung hat Musik, die es womöglich gar nicht geben würde, hätte der Künstler nicht seinen eigenen Toaster entdeckt? Sébastien Tellier ist überzeugt, dass diese Idee funktionieren kann: „Es geht darum, dieses Alltägliche in etwas Außergewöhnliches zu verwandeln“, sagt er. „Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, wie wir zu Gefangenen unserer häuslichen Pflichten werden. Denn beim Menschen ist es nun mal so, dass wir eigentlich gar nicht existieren können, wenn wir keine größere Aufgabe haben. Das Leben ist ein permanenter Kampf – und die Hausarbeit bildet den Kern dieses Kampfes.“
Zwei Elemente helfen ihm dabei, das umzusetzen. Das erste ist Humor: Auf dem Cover wird er von Händen in Haushaltshandschuhen betatscht, auf dem Promofoto mimt er eine Rockstar-Pose mit einem Besen statt E-Gitarre. Das erste Stück der Platte heißt A Ballet – damit kann natürlich ein Tanz gemeint sein, aber es ist auch das französische Wort für „Besen“. Der Song setzt auf die Vocoder-Stimme, die man von ihm kennt und ein sphärisches Ambiente, das Klavier gibt sich erst ganz am Ende als das Instrument zu erkennen, das wohl der Ursprung dieses Songs war.
Das zweite ist eine neue Arbeitsweise für diese acht Songs, die aus mehr als 200 Skizzen hervorgegangen sind. Der Schaffensprozess hat sich in zweifacher Hinsicht bei ihm geändert. Zum einen machte er sich sofort nach dem Aufwachen an die Arbeit. „Zwischen dem Schlafen und dem wirklichen Wachsein gibt es so einen Zustand, in dem alles noch ein wenig vage, verschwommen ist. Wie in einer Wolke. An dem Punkt sind auch die Gefühle am dramatischsten. Wenn ich dann einen Song über jemanden schreibe, den ich liebe, wird das ultra-romantisch. Und auch wenn ich meinen Hass über irgendetwas rauslasse, kommt da richtig was zusammen. Ich versuche einfach, an dieses Traumgefühl anzuknüpfen.“ Das hört man etwa in Venezia, das mit seinem Eighties-Electro-Sound verwirrend wird wie der Karneval in der Lagunen-Stadt (unter anderem mit einem Rap-Teil), auch Oui als Klavierballade mit etwas Extravaganz und Hazy Feeling als stilechter, aber nicht allzu spektakulärer Seventies-Space-Funk passen in diese Stimmung.
Zum anderen wollte Sébastien Tellier diesmal nicht in erster Linie ein Beat-Bastler sein, weil es davon seiner Ansicht nach schon so viele gibt. „Computerspezialisten. Producer. Ich wollte lieber ganz alleine auf einer Insel sein, raus aus diesem Ozean. Ich wollte ein Macher von Melodien sein.“ In der Tat erweist sich die Bass Drum in Domestic Tasks, dem vierten Track der Platte, als das erste energische Element des Albums, sie wird aber dann von Noise-Passagen zum Schweigen gebracht, bevor sie mit neuer Kraft zurückkehrt. Das Stück ist – trotz seines Titels – der einzige Moment auf Domesticated, den man sich tatsächlich im Club vorstellen könnte.
„Dieses Mal habe ich die Songs um meine Stimme herum arrangiert: Ausgangspunkt war immer die Gesangsmelodie. Es ist zwar schon ein elektronisches Album, aber die Synthesizer und Drum Machines waren nicht tonangebend, es gab kein ‘durm-durm-durm’. Stattdessen ging es immer erst um eine Melodie. Rhythmus – das ist Musik, die eine Ordnung hat. Aber Melodie – das ist das eigentlich Menschliche daran“, beschreibt Sébastien Tellier den Ansatz für seine erste neue Platte seit sechs Jahren.
Der Album-Abschluss Won fasst diese Charakteristika am besten zusammen. „Da haben wir’s doch: Ich habe verloren, das Leben hat gesiegt! Gewonnen! Ich bin domestiziert – Domesticated! Meilenweit entfernt von den wilden, draufgängerischen Teenagerjahren, achte ich heute darauf, dass das Wohnzimmer schön aufgeräumt und das Bett auch ordentlich gemacht ist. Ich weiß, wie alle Haushaltsprodukte im Supermarkt heißen. Mein letzter Weihnachtswunsch war ein Staubsauger von Dyson“, sagt Tellier über den Kontext für dieses Finale. „Letztlich hat das alles auch etwas Tröstliches. Denn all diese Anstrengungen können einen durchaus glücklich machen. Es ist also nicht bloß hart. Was mich angeht, war ich nie so glücklich wie heute, wo ich domestiziert bin. Dieses primitive Wesen, das während der Teenagerjahre in mir gelebt hat, ist weg, abgehauen – und es ist viel besser ohne ihn!“
Stuck In A Summer Love ist hingegen eine Erinnerung an die turbulenten Teenager-Jahre, in denen sich der Künstler im Rückblick voller aufwühlender Emotionen fühlte, „aber zugleich wie eine Raupe: fett und stark. Ich bin sehr stolz auf dieses Stück. Ich hab mir das immer gewünscht, mal so einen Song zu machen, wusste aber nie, wie ich das machen sollte.“ Der Sequenzer sorgt darin für die Struktur, die Streicher sorgen für Spannung rund um die Zeile „I can’t stop loving you“, später entspinnt sich ein schöner Dialog zwischen Klavier und Gitarre. Atomic Smile betrachtet den radikalen Umbruch, im eigenen Leben oder der Gesellschaft insgesamt („Ich will die Zerstörung, will die Revolution – aber wehtun darf sich keiner“, scherzt Sébastien Tellier), auch dieses Stück kann man als sehr typisch für Domesticated betrachten: Es klingt wie ein musikalischer Märchenwald, mit viel Nebel, guten Feen – und natürlich ohne bösen Wolf.