Nach ihrem dritten Album waren Selig am Ende. Ausgebrannt, zerstritten, desillusioniert. Nun, nach der Wiedervereinigung 2008, sind Selig erneut beim dritten Album angekommen. Beim Tourauftakt in Leipzig muss man kurz befürchten, dass die Geschichte einen ähnlichen Verlauf nehmen könnte.
Draußen ist es saukalt, das erste Deutschland-Konzert der Tour ist (ebenso wie die meisten anderen Termine) nicht ausverkauft, und den Ansagen von Sänger Jan Plewka („Seid ihr alle da?“ „Seid ihr noch da?“) merkt man an, dass er die Kommunikation mit dem Publikum erst wieder ein bisschen üben muss. Was schwerer wiegt: Der Funke will bei dieser Show in Leipzig zunächst nicht so richtig überspringen. Doch dann wird Bring mich heim zum Wendepunkt des Konzerts: Die Fans waren bis dahin wohlwollend, aber ein wenig reserviert. Jetzt gibt es plötzlich euphorisches Mitklatschen im Anker, sogar Szenenapplaus.
Selig haben lange auf diesen Moment hingearbeitet. Es spricht für sie (und für die wieder gewonnene Freude am gemeinsamen Musizieren), dass sie nicht die Flinte ins Korn werfen und sich in Routine oder gar Arroganz ergeben. Von Beginn an merkt man den Hamburgern an, wie gerne sie diesen Abend zu einem besonderen machen möchten. Sänger Jan Plewka, mit T-Shirt, Weste und Mütze, animiert die Fans immer wieder, die Band legt sich derart ins Zeug (inklusive einer Headbanging-Einlage von Gitarrist Christian Neander), dass man immer wieder staunen muss, wie sie es mit nur fünf Leuten schaffen, diesen Sound hinzubekommen.
Ich Lüge nie macht, wie auf dem aktuellen Album Magma, den Auftakt. Sie scheint folgt, danach ist Schau Schau der erste Song, bei dem man merkt, dass er für einige Fans im Anker als Lieblingslied gelten kann. Arsch einer Göttin ist dann der erste Rückgriff auf die Prä-Reunion-Phase.
Auch danach bleibt der Anteil der Magma-Songs hoch, sie integrieren sich wunderbar ins ältere Material. Die Gefahr, dass hier irgendetwas verstaubt oder altmodisch klingen könnte, besteht ohnehin nicht. Das liegt nicht nur an der Frische von Magma, sondern vor allem daran, dass der Sound von Selig (von einigen Ausnahmen auf Blender abgesehen) nie modern war. Wir sind hier in den Siebzigern. Im Rockland.
Auch das Publikum passt dazu: Es gibt einige Leute, die beim Selig-Debüt vor fast 20 Jahren vielleicht ihre wilde Zeit hatten, jetzt aber Beamte sind und ihr Haus abbezahlen. Es gibt ein paar, die genauso alt sind, aber noch immer davon träumen, irgendwann den Durchbruch mit ihrer Hippie-Kunst zu feiern. Und ein großes Kontingent von Fans, die Selig womöglich erst mit Und endlich unendlich entdeckt haben.
Das famose Die alte Zeit zurück wird ein Höhepunkt und beweist, wie clever Selig längst mit der Tatsache umgehen, dass sie keine Jungspunde mehr sind. Die Kracher von früher heben sie sich natürlich größtenteils für die Zugabe auf. Bruderlos ist nach knapp 90 Minuten der letzte Song des regulären Sets, mit Sie hat geschrien kehren Selig dann auf die Bühne im Anker zurück. Längst haben sie es da geschafft, den Anker, nunja, zu lichten und in volle Fahrt zu versetzen: Die Frau hinter der Currywursttheke singt mit, der Security-Mann auf der Empore tanzt und mitten im Publikum reckt jemand seine Bionade-Flasche in die Höhe.
Das ist natürlich keine Exstase, aber eine intensive, entspannte Einigkeit, die auch die neuen Selig auszeichnet. Sie verstehen sich mittlerweile wieder so gut, dass sie sogar gemeinsam im Tourbus reisen (auch wenn manchmal ein Bandmitglied abhanden kommt, um mit Dave Grohl zu knutschen, wie sie meinem geschätzten Kollegen Sven Wiebeck im Interview erzählt haben) und sich noch drei, vier weitere Alben vorstellen können.
Auch in Leipzig bekommen sie nicht genug, denn es gibt reichlich weitere Zugaben: Bei Wenn ich wollte singen die Fans erstmals alleine, das folgende Ohne dich ist toll gespielt und immer noch ein ungemein lebendiges Hammer-Liebeslied, stellt aber nicht alles in den Schatten – für die Qualität des übrigen Materials ist das ein gutes Zeichen.
Der zweite Zugabenblock beginnt mit Alles auf einmal und endet mit Wir werden uns wiedersehen. Weil die Fans in Leipzig danach einfach immer weiter singen, kommt die Band sogar noch ein drittes Mal zurück („Ihr habt es so gewollt“, warnt Jan Plewka) und spielt eine zauberhafte Version von Regenbogenleicht. Mit einem dicken Grinsen verlassen Selig nach mehr als zwei Stunden schließlich die Bühne. Der Abend in Leipzig wirkte am Anfang, als müssten sie einigermaßen missmutig auf die folgenden Konzerte blicken. Nachdem während Bring mich heim der Knoten geplatzt war, dürfte nun Vorfreude angesagt sein.