Selig Live Leipzig

Selig, Täubchenthal, Leipzig

„Selig ist ein Zustand“, sagt Jan Plewka, als das Konzert seiner Band in Leipzig fast vorbei ist. Er hat diesen Satz schon oft auf der Bühne gesagt, doch er erinnert offensichtlich nicht nur die Fans immer wieder gerne daran, sondern auch sich selbst und seine Mitstreiter Lenard „Leo“ Schmidthals, Christian Neander und Stephan „Stoppel“ Eggert. Das wäre gar nicht nötig nach mehr als 20 Songs, mit denen Selig im fast ausverkauften Täubchenthal wieder einmal gezeigt haben, dass es von ihnen keine schlechten Lieder gibt.

Das Prinzip der Selbstvergewisserung ist aber auch auf andere Weise noch sehr präsent an diesem Abend. Mindestens drei Mal artikuliert Plewka sein Erstaunen darüber, dass da vor ihm tatsächlich ein paar Tausend Fans stehen. „Ihr seid ja alle hier“, „Schön dass ihr da seid“ und anfangs sogar der Kinderfernsehen-Satz „Seid ihr alle da?“ gehören zu seinen Ansagen. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass in dieser Freude natürlich noch die Folgen von Corona spürbar sind, der Frust, ausgebremst zu sein, nicht live spielen zu können, all diese Energie nicht zu bekommen, die für Selig so wichtig und auch in Leipzig so überdeutlich spürbar ist.

Es ist wohl auch nicht zu gewagt, in diesem wiederholten Aussprechen des Offensichtlichen ein bisschen Verwunderung darüber zu vermuten, dass all dies tatsächlich passiert: Selig stehen 30 Jahre nach ihrer Gründung auf einer Konzertbühne, sind gut in Form und noch immer heiß geliebt. Nach Krach und Auflösung, nach Soloprojekten und einer Pandemie. Lieder wie Mädchen auf dem Dach werden wie eine Hymne gefeiert, obwohl sie damals nicht mal eine Single waren, sondern bloß ein Albumtrack einer Platte, die Platz 35 in den deutschen Charts erreicht hat. Songs wie Lass mich rein lässt die Band durch kleine Variationen wunderbar lebendig klingen, das tausendfach gehörte Ohne dich wird als vorletzte Zugabe tatsächlich ein aufrichtig bewegender Moment. Und das neuere Material (es gibt in Leipzig sieben Lieder vom ersten und vier vom zweiten Album) fügt sich qualitativ nahtlos ein.

Wie wenig selbstverständlich all das tatsächlich ist, machen die Bilder deutlich, die auf den Bühnenhintergrund projiziert werden. Die Fotos aus den verschiedenen Karrierephasen von Selig erinnern daran, in was für eine Welt diese Band damals trat. Viva regierte die deutsche Popkultur, Wattenscheid spielte in der Fußball-Bundesliga, Bill Clinton wurde US-Präsident. So etwas wie tanzbare Rockmusik mit guten deutschsprachigen Texten, die sexy war und authentisch, gab es damals nicht. Selig waren genauso weit weg vom Prollverdacht der Toten Hosen wie vom akademischen Dünkel der Hamburger Schule. Ihr Sound war hart, doch der Gestus auch feminin, sie brachten Seventies-Flair mühelos mit dem zusammen, was Grunge gerade erst in Gang gesetzt hatte. Das war nicht nur einzigartig, sondern spektakulär – und es ist sicher dieser Effekt, der auch 30 Jahre später noch für volle Konzerthallen sorgt, wenn Selig spielen.

Schon nach einer Viertelstunde bauen sie im Täubchenthal eine kleine Jam-Session ein und haben damit nach eigenen Angaben „jetzt schon den Zustand erreicht wie sonst erst am Ende des Konzerts„. Auch im Publikum ist die Begeisterung von Anfang an spürbar, allerdings gibt es nach einer knappen Stunde auch einen ordentlichen Durchhänger. Bruderlos kündigt Jan Plewka erst als „so etwas wie die Essenz unserer Band“ an, vergisst dann aber den Text. Das folgende Ist es wichtig wird einer von mehreren Momenten, in denen der Hang zu Muckertum wertvolle Spannung kostet.

Mit Sie hat geschrien kriegen Selig dann aber wieder die Kurve und mit Die Besten als zweiter Zugabe gibt es sogar noch ein echtes, unerwartetes Highlight. „So sind wir Menschen: Singen! Tanzen! Lieben!“, schließt Jan Plewka aus den Reaktionen der Fans in Leipzig. Man muss daran zweifeln beim Blick auf die Weltlage (und Kurt Cobain, der ebenfalls ein paar Mal auf dem Backdrop eingeblendet wird, hätte bei solchen Hippie-Ansagen sicherlich gekotzt). Aber natürlich ist es schön, wenn man für knapp zwei Stunden so tun kann, als ob. Auch nach 30 Jahren noch.

Die komplette Setlist von Selig in Leipzig:
1 Unsterblich
2 Kleine Schwester
3 Arsch einer Göttin
4 Alles auf einmal
5 Alles ist nix
6 Hey ho
7 Neuanfang
8 Lass mich rein
9 High
10 Mädchen auf dem Dach
11 Hey hey hey
12 Bruderlos
13 Ist es wichtig
14 Myriaden
15 Sie hat geschrien
16 Und endlich unendlich
17 Von Ewigkeit zu Ewigkeit
Zugabe 1 Wenn ich wollte
Zugabe 2 Die Besten
Zugabe 3 Ohne dich
Zugabe 4 Wir werden uns wiedersehen

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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