Autor | Siegfried Lenz | |
Titel | Deutschstunde | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1968 | |
Bewertung |
Vier Jahre lang hat Siegfried Lenz an Deutschstunde gearbeitet. Er behandelt ein Thema, das sein gesamtes Werk durchzieht. Doch diesmal hätte das Timing kaum besser sein können: Als der Roman auf der Frankfurter Buchmesse 1968 vorgestellt wurde, tobten draußen die Studentenproteste. Genau wie das Buch stellte die aufbegehrende Jugend die Frage: Haben Täter und Mitläufer des Dritten Reichs wirklich Rechenschaft abgelegt, wenigstens vor sich selbst? Nicht nur, weil es diesen Puls der Zeit so genau traf, wurde Deutschstunde zum Bestseller und zum endgültigen Durchbruch für den damals 42-jährigen Lenz.
Sein Ich-Erzähler ist Siggi Jepsen. Er ist beinahe volljährig und sitzt in einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Als er einen Aufsatz über „Freuden der Pflicht“ schreiben soll, fällt ihm ganz viel dazu ein, bloß kein Anfang. Deshalb bleibt sein Heft leer. Der Lehrer empfindet das als Provokation, zur Strafe muss Siggi nachsitzen – so lange, bis er seinen Aufsatz vollendet hat. Er ordnet seine Gedanken und bringt sie zu Papier, daraus wird eine monatelange Klausur mit einem Rückblick auf die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs.
Dieser Rückblick bildet die Binnenhandlung des Romans. Siggi erinnert sich an das Geschehen in seinem Heimatdorf Rugbüll an der Nordseeküste, beginnend im Jahr 1943. Sein Vater ist als „nördlichster Polizeiposten Deutschlands“ im Dienst, zu seinen Aufgaben zählt unter anderem, das Malverbot zu überwachen, das die Nazis gegen den Maler Max Ludwig Nansen verhängt haben. Der Auftrag ist pikant, denn Polizist und Maler kennen sich von Kindesbeinen an. Auch der damals zehnjährige Siggi hat ein sehr herzliches Verhältnis zu dem berühmten Künstler aus der Nachbarschaft, der auf expressionistische Ansichten der Küstenlandschaft spezialisiert ist. Auch er gerät durch den Auftrag in die Bredouille, denn sein Vater versucht, das Vertrauensverhältnis zwischen dem Jungen und dem Maler auszunutzen und ihn als Spitzel einzusetzen. Siggi spielt dabei aber nicht mit – stattdessen versteckt er Bilder, die während des Malverbots entstanden sind, und wird so zum Komplizen des Künstlers.
Das Metier von Nansen spielt in Deutschstunde eine gewichtige Rolle. Licht, Natur und Landschaft sind nicht nur in den Bildern des fiktiven Malers, der Ähnlichkeiten zum realen Emil Nolde aufweist, die zentralen Elemente, sondern haben auch im Roman eine herausragende Stellung. Fast könnte man meinen, Siegfried Lenz versuche hier, die Techniken der Malerei auf sein eigenes Schreiben zu übertragen: Er spielt mit verschiedenen Ebenen, Perspektiven und Farben. Viel wichtiger: Wie im Gemälde ist auch in diesem Roman zunächst alles Detail. Die Erinnerung von Siggi an das zehn Jahre zurückliegende Geschehen hat geradezu fotografische Qualität, und unverkennbar ist sein Bestreben, jede Kleinigkeit in seinem jetzt entstehenden Aufsatz richtig darzustellen. Es war schließlich gerade diese überwältigende Vielfalt an Eindrücken, die ihm die Strafarbeit eingebrockt hat – nun soll der Versuch, all dies zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen, auch ihm selbst helfen, seine Biographie zu ordnen.
Beinahe zwangsläufig wird durch diese Technik das Erzählen selbst zum Thema im Buch, verstärkt durch die Konstruktion aus Binnen- und Rahmenhandlung mit dem zum Schreiben verdonnerten Schüler. Nicht selten greift sogar beides (die Verwandtschaft zum Malen und das explizite Thematisieren des Erzählens) ineinander, wie an dieser Stelle: „Ab und zu linste ich über die Teiche in Richtung Rugbüll, doch da näherte sich niemand, nur Kühe und Schafe gingen auf der Weide. Kühe und Schafe, das schreibt sich so hin, und dennoch muss ich sie im Hintergrund aufbauen, schwarzweiß gefleckt, grau, verzottelt – und ineinander übergehend, so dass nicht zu entscheiden ist, wo ein Schaf aufhört, das andere beginnt -, denn ich möchte vermeiden, dass meine Ebene mit einer anderen Ebene verwechselt wird. Ich erzähle nicht von irgendeinem, sondern von meinem Ort, suche nicht nach irgendeinem Unglück, sondern nach meinem Unglück, überhaupt: ich erzähle keine beliebige Geschichte, denn was beliebig ist, verpflichtet zu nichts.“
Der Begriff der Pflicht, der dieses Zitat abschließt, ist der Kern der Deutschstunde. Am Beispiel des Polizisten zeigt Lenz nicht nur den typisch kleinbürgerlichen Mitläufer des Dritten Reichs, sondern enttarnt auch dessen Rechtfertigungsstrategie. Hat er nur seine Pflicht getan? Oder hat er sich schuldig gemacht, vielleicht gerade durch seine Bereitschaft zur unbedingten Pflichterfüllung? Diese Frage wird im Buch sehr eindeutig beantwortet: Wer blind seine Pflicht erfüllt, wird nicht seiner Verantwortung gerecht, sondern entledigt sich gerade dieser.
Lenz stellt diesem Obrigkeitsdenken mehrere andere Modelle gegenüber. Nicht nur den Maler, der manchmal fast anarchisch auf seiner eigenen Ethik beharrt. Auch Siggis älterer Bruder gehört dazu, der sich durch Selbstverstümmelung dem Dienst bei der Wehrmacht entziehen will und daraufhin von der Familie verstoßen wird. Den angehenden Psychologen Wolfgang Mackenroth kann man ebenfalls in diese Reihe stellen: Er besucht Siggi regelmäßig in der Besserungsanstalt und will ihn zum Studienobjekt für seine Diplomarbeit machen. Lenz zitiert aus dessen Arbeit und zeigt so den Versuch, der Pflicht zum Verstehen und zur Empathie, ebenso wie zur Analyse und Therapie, auf wissenschaftliche Weise näher zu kommen – natürlich schwingt dabei auch die Frage mit, ob dies mit den Methoden der Psychologie wirklich gelingen kann, oder doch eher mit den Mitteln der Literatur, die nicht nur Lenz selbst anwendet, sondern auch seine Hauptfigur beim Verfassen des Aufsatzes.
Nicht zuletzt ist Siggi Jepsen selbst zunächst ein Fall von falsch verstandenem, beinahe perversem Pflichtverständnis. Als sich seine Strafarbeit immer länger hinzieht und selbst der Anstaltsleiter ihm anbietet, es gut sein zu lassen, beharrt er darauf, den Aufsatz, der längst einen ganzen Stapel von Schulheften füllt, zu Ende zu bringen. Schnell wird im Laufe der Lektüre klar, dass dahinter freilich kein unbedingter Gehorsam steckt, sondern ein Akt der Emanzipation. Das Schreiben wird nicht nur zur Vergangenheitsbewältigung, sondern zur Befreiung. Diese Botschaft von Deutschstunde passt ebenfalls perfekt in die Zeit der Veröffentlichung: Die Vergangenheit zu betrachten, ihre Strukturen, Beziehungen und nicht zuletzt die ganz persönlich begangenen Fehler zu verstehen, ist Voraussetzung für Lernen, natürlich erst recht für ein klügeres Handeln in Gegenwart und Zukunft.
Bestes Zitat: „Weißt du, was Sehen ist? Vermehren. Sehen ist Durchdringen und Vermehren. Oder auch Erfinden. Um dir zu gleichen, musst du dich erfinden, immer wieder, mit jedem Blick. Was erfunden wird, ist verwirklicht.“