Künstler | Sophie | |
Album | Oil Of Every Pearl’s Un-Insides | |
Label | Transgressive | |
Erscheinungsjahr | 2018 | |
Bewertung |
Als den Popstar, den wir genau jetzt brauchen, hat OUT gerade Sophie bezeichnet. Die New York Times erkennt in ihrem vorgestern erschienenen Album Oil Of Every Pearl’s Un-Insides sogar “eine glitzernde Oberfläche mit tieferer Bedeutung – keine Satire auf Pop und kein Kommentar dazu, sondern ein Destillat all dessen, was Pop sein könnte“.
Was dabei – neben der Höhe der Erwartungen – am meisten irritiert, ist der Begriff „Pop“. Ganz eindeutig ist diese Platte, die als Debütalbum gelten kann, wenn man die 2015er Veröffentlichung Product als EP betrachtet, mehr von Underground-Clubs geprägt als vom Radio. Sophie ist als Transgenderfrau, die aus Schottland stammt und jetzt in Los Angeles lebt, kein bisschen Mainstream, sondern so sehr Außenseiter, wie man es nur sein kann. Nicht nur im Hinblick auf ihre Biographie, sondern auch und vor allem musikalisch.
Oil Of Every Pearl’s Un-Insides lässt daran keinen Zweifel: Dieser Sound will anders sein, er strotzt vor Ecken und Kanten. Dabei meint dieses „anders sein“ nicht: „Ich selbst sein, meine Persönlichkeit zum Ausdruck bringen“, jedenfalls nicht in einem definierten Sinne. Dieses Selbst, diese Persönlichkeit ist flexibel und wandelbar. Sie ist eine Ober- und Projektionsfläche und man erkennt natürlich: Das war bei vielen großen Stars so, von David Bowie über Madonna bis Lady Gaga. Also doch: Pop.
Wie das Spiel damit funktioniert, zeigt am besten der Albumauftakt It’s Okay To Cry, den es wie die beiden folgenden Lieder schon als Vorab-Track gab. Es gibt keinen Beat, dafür aber eisige Ambient-Synthesizer und dazwischen singt Sophie mit einer Stimme, die wirkt, als sei sie künstlich nach unten moduliert. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Auf ihren früheren Tracks hatte Sophie stets mit extrem manipuliertem Gesang gearbeitet (auch auf den folgenden Songs dieses Albums wird das der Fall sein), hier ist ihre Stimme erstmals fast ohne Effekte zu hören und sie spricht passenderweise ein doppeldeutiges Kompliment aus: „I hope you don’t take this the wrong way / but I think your inside is your best side”.
Die Musik von Ponyboy wird nach diesem zurückhaltenden Auftakt ein Schock: Der Sound ist heavy und unbarmherzig, das gilt für die verzerrte Bass Drum ebenso wie für das chaotische und deshalb so provozierende Drumherum – all das unterstreicht die Position der Dominanz, aus der Sophie hier agiert. Faceshopping ist, auch wenn es zwischendrin ein bisschen Gesangsakrobatik à la Mariah gibt, im Prinzip purer Krawall und unterstreicht die Einschätzung, die das Fact Magazine getroffen hat: Diese Musik sei „härter und subversiver als 100 Prozent des Industrial-Technos, der 2017 herauskam, und zugleich eingängiger und einprägsamer als die gesamte aktuelle Popmusik.“
Auch Not Okay geht in diese Richtung: Aggressiv ist es ohnehin, aber selbst in einem Nicht-Pop-Kontext wäre so ein Track experimentell. Pretending wirkt wie ein nebulöser Soundtrack zu der „Ich tauche dann mal ins Klo”-Szene aus Trainspotting, wenn der Film tatsächlich gezeigt hätte, wie lange es dauert, bis man unten angekommen ist, und dass man auf dem Weg dorthin auch ein paar sehr unappetitliche Etappen zu absolvieren hat. Wenn die Chemical Brothers sich mal richtig ausgekotzt und zwischendurch versucht hätten, eine dieser Eurodance-Soul-Damen (meinetwegen von La Bouche oder Snap) zu verpflichten, um die Kotze zu kaschieren, wäre vielleicht etwas herausgekommen wie das mehr als neunminütige Whole New World:Pretend World.
Im Gesang von Is It Cold In The Water? steckt viel Gefühl, Empfindsamkeit und sogar Verzweiflung. Die Musik scheint dennoch wild entschlossen in Richtung Euphorie zu streben – das ist ein Kontrast, den man (mit anderen Mitteln) etwa von Florence kennt. Im höchsten Maße verschwörerisch kommt Infatuation daher, durch das Flüstern und die geisterhaften weiteren Stimmen, die trotz ihrer Unbestimmtheit doch auf der Forderung „I wanna know“ insistieren, selbst als ein recht brutales Gitarrensolo versucht, sie hinwegzufegen. Wenn man so einen abgenutzten Begriff bei Sophie überhaupt gebrauchen darf, dann ist Immaterial so etwas wie der Hit auf Oil Of Every Pearl’s Un-Insides: Der Beat ist tanzbar, geht aber keineswegs so auf Nummer sicher, wie es zunächst wirkt. Dazu kommen weitere Elemente aus einem vermeintlichen Ohrwurm-Rezept wie Kinderchor und „Ohoho“-Passage, aber auch die Songstruktur ist extrem unkonventionell.
Nicht nur deshalb ist dieses Album so faszinierend. Passend zur Lage der Welt bleibt auch in der Musik von Sophie alles vage; es wird schwer, hier einen eindeutigen (womöglich gar eingängigen) Refrain zu identifizieren. Oil Of Every Pearl’s Un-Insides reizt dabei auf sehr mutige Weise die Möglichkeiten aus, sich mittels Technologie zu optimieren und das Ergebnis medial zu inszenieren. Viel zeitgemäßer kann eine Methodik nicht sein. Zugleich ist die Platte als Album deutlich eindrucksvoller als die einzelnen Tracks für sich genommen – diese Eigenschaft ist dann zwar doch Un-Pop, aber ebenfalls extrem begrüßenswert.