Künstler*in | Steve Mason | |
Album | Brothers & Sisters | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung |
Santigold hatte eine Top-40-Single im UK und ein Nummer-1-Album in den Billboard-Dance-Charts, sie hat mit den Beastie Boys und Mark Ronson gearbeitet sowie Songs beispielsweise für Lily Allen und Ashlee Simpson geschrieben. Trotzdem kann sie von ihrer Musik kaum noch leben, wie sie schon 2016 dem Rolling Stone sagte: „Ich verkaufe so gut wie keine Platten mehr, diese Einnahmequelle ist für mich versiegt. Wie kann eine Songwriterin wie ich also heute noch Geld verdienen, wenn niemand mehr CDs oder Downloads kauft?“ Auch Nadine Shah bekommt für ihre Musik zwar viel Lob von Kritiker*innen und Publikum, aber das wirkt sich eben kaum auf ihr Konto aus. Als die Britin während des Corona-Lockdowns keine Konzerte mehr spielen konnte, musste sie wieder bei ihren Eltern einziehen (mit 34) und feststellen: „Ich war finanziell verkrüppelt. Und ich sah viele Künstler*innen, die zu kämpfen hatten“, wie sie damals der New York Times erzählte. Auch der deutsche Singer-Songwriter Gregor McEwan machte zuletzt darauf aufmerksam, dass selbst eine sehr vorzeigbare Zahl von Streaming-Abrufen für Künstler*innen oft nur zu einem Einkommen von ein paar Euro führt. To You CEO, Bitch heißt sein Song, der an den Spotify-Gründer gerichtet ist.
Bei solchen Aussagen ist es kein Wunder, dass ein Leben als Profimusiker*in nicht mehr allzu reizvoll erscheint, und es ist zugleich eine Wohltat, das fünfte Soloalbum von Steve Mason zu hören. Man kann nun anmerken, dass der Schotte einst als Gründungsmitglied der Beta Band seine Schäfchen ins Trockene gebracht hat. Aber auch unabhängig davon ist es nichts weniger als umwerfend, wie sehr er auf dem heute erscheinenden Brothers & Sisters die kreativen Freiheiten genießt, die ihm sein Beruf bietet. Sein wichtigstes Rezept dafür ist die Dekonstruktion, wie er verrät. „Zerstörung. Mach es einfach kauputt und baue es dann komplett neu auf!“, beschreibt er seine Arbeitsweise für den Nachfolger von About The Light.
Das liegt auch an einer veränderten Lebenssituation des Künstlers. Er hat geheiratet, ist Vater geworden und hat ein Haus gekauft. So etwas geht gerne mit einem erfreulichen Gefühl von Angekommensein einher, aber auch mit Verantwortung, die zu Druck werden kann. „Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, auf möglichst viel Radiotauglichkeit zu achten. Ich dachte, das wäre der richtige Weg. Aber das Problem ist, wenn man diesen Weg einschlägt: Er kann schnell zu einer sehr engen Sackgasse werden. Und ich habe festgestellt, dass man auf halbem Weg in diese Sackgasse nicht mehr wirklich ein Künstler ist. Man ist etwas anderes. Und ich wollte eigentlich immer nur ein Künstler sein“, sagt Mason, der sich also schließlich vom Gedanken verabschiedete, möglichst massentaugliche Musik zu machen, die vielleicht zuverlässiger dazu beiträgt, seine Familie zu ernähren.
„Ich nahm einfach die Gitarre in die Hand und fing an, herumzuspielen“, lautete dann seine neue Methode, die indes auch nicht vollends zielführend war. „Ich habe mehrere Sachen angefangen, musste sie dann aber wieder löschen. Diesen Prozess habe ich ziemlich oft durchlaufen. Wahrscheinlich zehn Mal. Ich habe alles gelöscht, so dass nichts mehr übrig war. Ich habe gemerkt, dass das, was ich gemacht habe, Mist war.“ Der Durchbruch war die Idee, die verworfenen Ideen zunächst aufzubewahren, um sie vielleicht an geeigneter Stelle oder in abgewandelter Form doch noch nutzen zu können. „Ich kam an den Punkt, an dem ich dachte, dass es vielleicht einen Weg gibt, etwas zu zerstören, aber vielleicht nicht auf so brutale Weise. Also habe ich ein paar Akkorde oder ein Riff geschrieben und dann vielleicht einen Teil weggelassen, aber andere Teile behalten. Und dann fügte man etwas hinzu. So wurde es ein massiver Filter- und Bearbeitungsprozess. Als ich dann das fertige Ding hatte, war es ganz anders als am Anfang.“
Wenn man das weiß, kann man diese Entstehungsmethode den Tracks auf Brothers & Sisters tatsächlich anhören. Mars Man eröffnet das Album und wirkt knapp zwei Minuten lang kolossal bedrohlich, dann wird es mit dem Einsetzen seiner Stimme und der reizvollen Percussions tatsächlich himmlisch, nicht nur, weil die erste Texzeile „Celestial excitement will enlighten“ heißt. „Das war mein Versuch, mir selbst gegenüber mutig zu sein“, sagt Mason. „Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Worte schreiben sollte, sie kamen mir fast komisch vor, aber mir wurde klar, dass es genau das sein musste. Wenn man diese Worte ernst nimmt, sind sie wunderschön. Ich glaube, es ging darum, mich daran zu erinnern, wie ich früher war, als ich sehr selbstbewusst war und von meiner Kunst überzeugt. Das habe ich im Laufe der Zeit verloren, was in einer 25-jährigen Karriere unvermeidlich ist. Es ging also darum, etwas wiederzubeleben, das in mir geschlummert hatte.“
Erstaunliche Verwandlungen und spektakuläre Dramaturgien findet man auch danach immer wieder auf dieser mit Produzent Tev’n Nhlumayo entstandenen Platte, für die Steve Mason so unterschiedliche Einflüsse wie den Wu-Tang Clan, LTJ Bukem, Adam & The Ants, Public Image Limited, Mahalia Jackson und The Cramps benennt. Bei All Over Again steht erst eine akustische Gitarre klar im Zentrum, in der zweiten Hälfte verwandelt sich das Lied in nichts anderes als Gospel, schließlich geht es darin um Zusammenhalt auch in schweren Zeiten. Travellin‘ Hard hat in der Strophe einen derart dominanten Bass, dass man daraus leicht einen Club-Track machen könnte, der Refrain hingegen klingt wie ein Karneval und die Passagen dazwischen manchmal nach Barock, manchmal nach Blues. Brixton Fish Fry (mit dem pakistanischen Sänger Javed Bashir) vereint viel Elektronik mit beseeltem Chorgesang. Was anderswo einfach „Beat“ heißt, ist in Let It Go schon ein vielschichtiges, einzigartiges, höchst kreatives Kunstwerk, dazu packt er noch eine ungewöhnliche Slide-Gitarre und Frauengesang.
Zwei Songs bilden das Gravitationszentrum von Brothers & Sisters. Erstens Upon My Soul, das erste für das Album komplettierte Stück, das einen tollen Groove hat („Alles hat einen Rhythmus. Das war für mich immer wichtig“, sagt Mason über sein Grundverständnis von Musik) und sich bei aller Komplexität auch eine große Unmittelbarkeit bewahrt. Zweitens I’m On My Way, das mit seinem catchy Refrain als einer der experimentelleren Momente von Noel Gallagher oder ein verlorenes Highlight von Ocean Colour Scene vorstellbar wäre und das der Schotte als Gegenstück zu Upon My Soul betrachtet. „Diese beiden passen gut zusammen“, erklärt er. „Sie sind beide wie Arbeiterlieder und handeln davon, die Fesseln der Herren abzuschütteln und Spiritualität, Wahrheit, Freiheit und Erleuchtung zu finden und uns das zurückzuholen, was uns gehört.“
Aus diesem Zitat spricht eine weitere zentrale Eigenschaft des Albums. Selten hat man seinen Gesang so aggressiv gehört wie in den Versen „Here I am / hold my soul / I never gonna settle for rock’n’roll“, auch in etlichen anderen Momenten der Platte sind Wut und Empörung zu erkennen, ebenso wie ein Aufruf zur Verbrüderung und zum Protest gegen Eliten. „It’s all of us against the rest“, heißt es in Upon My Soul, in No More (wieder mit Javed Bashir) wirken die Verse „This is the people speaking / we are not the same“, fast wie ein Schlachtruf, in jedem Fall wie eine große, appellative Kraft. The People Say entwickelt durch die Verbindung aus hymnischer Gesangsmelodie und großer rhythmischer Energie die erhebende und anstachelnde Wirkung einiger Tracks auf Primal Screams Screamadelica. Selbst im vergleichsweise reduzierten Pieces Of Me ist unverkennbar viel Leidenschaft in der Stimme zu hören.
Begründet ist dieser Beinahe-Aktivismus mit den aktuellen politischen Entwicklungen, mit der Enttäuschung darüber, dass wir uns auch im 21. Jahrhundert noch mit Rassismus, Homophobie und Ungleichheit herumschlagen müssen. „Für mich ist diese Platte ein riesiges ‚Fuck you‘ an den Brexit. Und ein riesiges ‚Fuck you‘ an alle, die Angst vor Einwanderung haben“, stellt Mason klar. Eindeutig will er hier ein Motor für gesellschaftlichen Fortschritt sein, und sein Treibstoff dafür ist die Musik: „Das war schon immer das Ziel: Die Welt durch Musik zu verändern. Ich weiß immer noch nicht, was das bedeutet. Aber ich werde nie aufhören, es zu versuchen. Denn deshalb bin ich hier.“ Auf den Punkt gebracht wird das im Titelsong. Brothers And Sisters beschreibt zunächst den Corona-Blues („So music died / and all we loved before“), entwickelt sich dann aber zu einem Dub-Spektakel und schließlich zu einer Hymne, die mit der Zeile „Brothers and sisters pump up the volume“ die Musik selbst feiert.
So zutreffend die Analysen von Santigold & Co. sind, und so kreativ sie mit den aktuellen Problemen der Musikindustrie umgehen, so sehr liefert Steve Mason hier einen Gegenentwurf. Er zeigt auf diesem Album, vollkommen unabhängig von kommerzieller Erwartung und zugleich mit einem enormen Leistungsanspruch an sich selbst, wie viel Freude es auch in diesen Tagen noch machen kann, ein Musiker zu sein. Mehr noch: ein kreativer Mensch.