Talking To Turtles Grapefruit Knife

Talking To Turtles – „And What’s On Your Mind“

Künstler*in Talking To Turtles

Talking To Turtles And What's On Your Mind Review Kritik
Talking To Turtles haben „And What’s On Your Mind“ in Nordfriesland aufgenommen.
Album And What’s On Your Mind
Label Krokant
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung

Wahrscheinlich sind Schildkröten ziemlich gute Zuhörer. Sie haben viel Lebenserfahrung (manche Arten werden über 150 Jahre alt). Auch, wenn man an ihrem Kopf keine Ohren sieht, können sie dennoch hören (sie haben ein voll ausgebildetes Innen- und Mittelohr). Und die Chance, dass man als Reaktion ein verständnisvolles Nicken bekommt, ist auch ziemlich hoch, schließlich können sie weder mit der Stirn runzeln noch den Kopf schütteln – und da sie stumm sind, braucht man auch keine Widerworte zu erwarten.

Tatsächlich geht es bei Talking To Turtles auf ihrem übermorgen erscheinenden vierten Album um eine Einladung zu Gespräch, Annäherung und Kommunikation. Neun Jahre nach der letzten Platte (Split) und fünf Jahre nach dem letzten Konzert klingt die Musik von Claudia Sievers und Florian Sievers noch immer wie eine Kuscheldecke. Und zwar wie eine Kuscheldecke, die nicht bloß zuhause auf dem Sofa auch dich wartet, um dir dann Geborgenheit zu spenden, wenn du sie besonders dringend brauchst, sondern die sich autonom bewegt und auch noch über künstliche Intelligenz verfügt, sodass sie dich durch dein gesamtes Leben begleitet und stets ein „Ist alles okay bei dir?“ auf den Lippen hat, wann immer ihre Sensoren entsprechenden Bedarf anzeigen.

Jede Note auf And What’s On Your Mind, das mit Sönke Torpus in dessen „The Bubble“-Studio in Nordfriesland produziert wurde, klingt, als sei sie vom Himmel gefallen. Trotzdem erkennt man, wie viel kreative Arbeit, Virtuosität und Liebe zum Detail darin steckt. Die beiden Geschwister singen in diesen zehn Liedern fast immer gleichzeitig, mal wird die Gitarre, mal der Bass, mal das Rhodes-Piano zum dezent dominierenden Instrument. Man hört dem Duo aus Leipzig in jedem Moment den Spaß an Kunst und Klang an, an Spiel und Spontaneität. „Wir haben allen Songs und dem Moment ihrer Aufnahme vertraut, wir wollten den Prozess nicht zerdenken“, sagen sie zur Herangehensweise.

I’m A Pretender eröffnet die Platte mit dem organischen, wohligen Sound, der And What’s On Your Mind insgesamt auszeichnet. Die behutsame Gitarre trägt dazu bei, die warmen Rhodes-Klänge, natürlich auch die sanfte Stimme von Florian Sievers und noch sanftere von Claudia Sievers. Auch im Text ist der Auftakt gleich prototypisch, denn die Platte bietet immer wieder ungewöhnliche Wortspiele, bei denen oft Redewendungen nach ihrem Wortlaut seziert und neu arrangiert werden, wie das vielleicht nur Nicht-Muttersprachler*innen können. „I’m a pretender / pretend to be tender / I’m doing pretty good“, heißt es hier, an anderen Stellen entsprechen Verse wie „I wasn’t myself in California / it was the state that I was in“ (aus dem dezent groovenden Stevie) oder „We’re wasting time / and time again“ (aus Worst Of Both Worlds, das beinahe etwas Country-Touch hat) dieser Methode oder Idiome wie „As far as I can see“ (in We Went To The Moon) oder „The grass is always greener“ werden in einen neuen Kontext gestellt, wie es im famos arrangierten What’s On Your Mind geschieht, das schon zu Beginn schwebend klingt und sich dann immer weiter aufschwingt.

Bezugspunkte für den Sound von Talking To Turtles zu finden, ist weiter nicht schwer. Der Album-Abschluss Junior 3rd erinnert an Belle And Sebastian in seiner Feinfühligkeit, der melodiösen Klase, dem Wortwitz und dem ungewöhnlichen Einsatz der Holzbläser (die Damian Dalla Torre beisteuert). In The Party Is Over, dem einzigen Lied der Platte ohne Beat (auf fünf Songs ist Max Schröder für das Schlagzeug zuständig), klingt die Stimme von Florian Sievers so brüchig und dabei weise, dass man an Eels denken kann. Auch der Texte würde dazu passen mit seiner Verwunderung über die Selbstverständlichkeiten des Lebens, die bei genauerer Betrachtung eben doch seltsam wirken können: „People appear to be a fact / some of them turn into lunatics / mammals do give birth / and you just realized / you live on planet earth.“

Grapefruit Knife ist eines der Stücke, in denen man merkt: Die Gitarre ist hier zwar vorsichtig, aber man könnte aus genau diesen Tönen mit etwas Verzerrung und viel mehr Tempo und Lautstärke durchaus auch ein Riff machen. Zugleicht zeigen die Zeilen „It’s not about the fruit so much / more about the juice and such“ die fast kindliche Freude an gerne auch beinahe surrealen Reimen, die sich auch in I’m Sticking With You findet, das dann fein die Balance zwischen loyalem Zusammenhalt und bedrohlicher Nähe auslotet.

Ein wundervolles Beispiel für die Musik von Talking To Turtles ist auch Answers Dot Com. Es zählt Online-Suchanfragen auf. Manche davon sind dumm, manche banal, manche rührend. Allen ist indes gemein: Es ist schlimm, dass die nach Antworten suchenden Menschen niemanden außer einem Algorithmus haben, dem sie diese Fragen stellen können. „I was tracing my believes / now I’m facing the truth / the World Wide Web makes me feel lonely / and lonely you are too“, lautet die Quintessenz. Solche Themen so originell und empathisch umzusetzen, unterstreicht die Qualität von And What’s On Your Mind: EDiese Musik klingt federleicht und ist trotzdem deep. Eine melancholische Grundstimmung geht hier nicht auf Kosten von hörbarer Spielfreude, und Intelligenz geht nicht auf Kosten von Emotionalität.

Zum Album gibt es ein schönes Making-Of-Video.

Website von Talking To Turtles.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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