The Angelcy – „Nodyssey“

Künstler The Angelcy

The Angelcy Nodyssey Review Kritik
Verzweiflung ist das dominierende Gefühl auf „Nodyssey“.
Album Nodyssey
Label The Angelcy
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

„I don’t need no holy land / I just need a home.“ So eine Zeile würde wahrscheinlich in vielen Regionen der Welt als aufsehenerregend gelten, womöglich auch als blasphemisch. Bei The Angelcy, die diese Verse in den Refrain von Holyland packen, kommt noch ein besonderer Aspekt hinzu: Das Sextett, das mit Nodyssey gerade sein zweites Album veröffentlicht hat, kommt aus Tel Aviv.

Frontmann Rotem Bar Or, der nach seinem Militärdienst lange als Straßenmusiker in Europa unterwegs war, kehrte 2010 nach Israel zurück und stellte dort die Band zusammen, die vor allem für ihre Konzerte gefeiert wird, auch hierzulande. Dass die politische Situation in seinem Heimatland, wie schon beim Debütalbum Exit Inside (2014), eine Rolle spielt, sollte man indes nicht mit Agitation verwechseln. Holyland ist gemeinsam mit The Revolution der einzige explizit politische Track auf dieser Platte. Vielmehr zeigt Nodyssey: The Angelcy verwandeln ihre Gefühle und Erlebnisse in Lieder, und da gehören in Israel eben auch Erfahrungen von Krieg und Terror dazu.

Viel eher als eine politische Komponente wird als Leitmotiv etwas anderes erkennbar: Verzweiflung. „I’m afraid of my own darkness“, singt Bar Or in Breakdown, „Fear is all I’ve got“, heißt es im Titeltrack zum Abschluss der Platte, „The world has been conspiring to save me / but I worry all the time“, muss er in I Worry eingestehen und gibt damit eine durchaus treffende Beschreibung für die typische Ausgangssituation vieler Lieder. Natürlich kann man auch in diesem Hang zur Selbstbezichtigung eine Folge des Dauerkonflikts in seinem Heimatland sehen, zugleich erwächst bei The Angelcy (die Band selbst bevorzugt die Schreibweise „theAngelcy“) daraus aber auch ein Antrieb, die Dinge nicht hinzunehmen. Das muss nicht gleich in Friedensaktivismus enden, aber in einem Land, in dem es oft als patriotische Pflicht deklariert wird, sich mit Kritik zurückzuhalten, benennen Bar Or und seine Mitstreiter das, was sie beunruhigt. Sie bestehen darauf, die Verhältnisse in den Griff zu bekommen, und sie wissen, dass sie selbst dazu beitragen müssen.

Dass daraus immer wieder eine erstaunliche Lebensfreude sprechen kann, liegt am reichen Instrumentarium, das die sechs Musiker einsetzen, unter anderem mit vielen Holzbläsern. Noch wichtiger ist der Mix von Genres, den man bei The Angelcy erleben kann. Die Basis vieler Lieder ist Folkmusik wie der an Tim Buckley erinnernde Albumauftakt Rising (mit den in diesem Kontext natürlich bezeichnenden Zeilen „We are one / We are one“), der warm und komplex klingt, behutsam, aber nicht beiläufig. Von dort aus reicht das Spektrum sehr weit. Mona Lisa, das beste Lied der Platte, ist verspielt und ausgelassen und hat eine große Unmittelbarkeit wie etwa die Lieder von Gogol Bordello, trotz der Komplexität, die in diesem Arrangement steckt.

Vira bleibt sphärisch, das schon erwähnte Revolution hat einen elektronischen Beat und eine Zappeligkeit, wie man sie von Hot Chip kennt. All Around The Wishing Well beeindruckt mit einem sehr coolen Rhythmus, der es gar nicht nötig hat, sich in den Vordergrund zu drängen, und reichlich Kraft im Refrain. In Everyone erzählt Bar Or sehr funky davon, wie er – auf den Spuren von Robert Johnson – den Teufel an der Kreuzung treffen wollte, dort aber vom Teufel versetzt wurde. „You can hear the little creeping fear in all I’ve done“, ist darin wieder eine dieser Zeilen, die seine Zerbrechlichkeit zeigen, zu einem trotzdem sehr positiven Sound irgendwo zwischen Jamiroquai, einer Hippie-Version von Brazilectro und der Kommunen-Attitüde beispielsweise von Arrested Development. In Cetacean Stranding zählt er die Dinge auf, die ihn vom Selbstmord abhalten, was auch deshalb erschreckend nonchalant wirkt, weil am Ende ein himmlischer Harmoniegesang im Stile von Crosby, Stills, Nash & Young erklingt.

Als vielleicht größte Stärke erweist sich nicht nur die Dynamik innerhalb der Songs und des Albums, sondern auch das Gefühl, dass diese Lieder weiter lebendig sind. The Angelcy haben elf sehr gute Versionen davon auf Nodyssey gepackt, aber man darf wohl davon ausgehen, dass sich das Material weiter verändern wird, spätestens auf der anstehenden Tournee. Diese Vorläufigkeit ist kein Defizit, sondern letztlich Ausdruck der Idee, dass die Lieder immer den Moment verkörpern sollen, in dem sie erklingen.

Als wilde Truppe, manchmal ohne Hosen, präsentiert sich The Angelcy im Video zu Mona Lisa.

Website von The Angelcy.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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