Künstler | The Dirty Nil | |
Album | Fuck Art | |
Label | Dine Alone | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Drei Dinge sind sehr erstaunlich bei Fuck Art, dem dritten Album von The Dirty Nil.
Erstens: Es ist nicht sehr clever von diesem Trio aus Ontario, diese Platte bereits am 1. Januar zu veröffentlichen. Wenn Ende 2021 die Listen mit den „Alben des Jahres 2021“ gemacht werden, ist das Werk nämlich vielleicht schon in Vergessenheit geraten. Doch genau auf diese Listen gehört diese herausragende Platte.
Zweitens: Es ist kaum zu glauben, dass in einem Jahr, das so beschissen war wie 2020, elf Lieder mit einem so hohen Spaßfaktor aufgenommen werden konnten. Dass The Dirty Nil über diverse Probleme singen (beispielsweise Angst vorm Altern, Shitstorms, kaputte Beziehungen), aber über Covid-19 kein Wort verlieren, ist eine der erfreulichsten Eigenschaften dieser Platte.
Drittens: Auch wenn Corona hier nicht explizit benannt wird und sich die Band ursprünglich entschied, das Thema ganz bewusst außen vor zu lassen, spielte es im Entstehungsprozess von Fuck Art eine erhebliche Rolle. Sänger und Gitarrist Luke Bentham, Bassist Ross Miller und Schlagzeuger Kyle Fisher haben das Album mit Produzent John Goodmanson aufgenommen (wie schon den Vorgänger Master Volume). „Es herrschte wirklich eine seltsame Atmosphäre“, blickt Luke Bentham auf die Aufnahmen in den Union Studios in Toronto zurück, die trotz der vielen guten Vorsätze doch beinahe vor dem Abbruch standen. „Wir haben einfach versucht, trotzdem Spaß zu haben und uns von all den schlechten Nachrichten da draußen abzuschirmen. Aber an dem Punkt, als wir gerade die Drums und den Bass im Kasten hatten, musste John zurück nach Seattle fliegen, weil er sonst in Kanada steckengeblieben wäre. Er hat gerade noch den allerletzten Flug erwischt. Danach kam der Studiotechniker Darren McGill zu mir und meinte: ‚Wir müssen das Studio in zwei Tagen dicht machen‘. Also blieben mir nur zwei Tage, um alle Gitarrenspuren für das gesamte Album einzuspielen, was normalerweise ein oder zwei Wochen in Anspruch nimmt. Zwei Tage lang haben wir jeweils für 16 Stunden nur auf der Basis von Pizzataschen, Sodawasser und Kaffee existiert.“ Während des ersten Lockdowns wurde dann aus der Distanz und per Mail am Album weitergearbeitet, danach wurde unter strengstens Hygienebedingungen häppchenweise weiter im Studio gearbeitet.
All das kann man freilich problemlos beiseite wischen, sobald man Fuck Art aufgelegt und die Play-Taste gedrückt hat. Der Auftakt ist heavy as fuck: Doom Boy beginnt mit einem Thrash Metal-Intro und führt dann hin zur Einladung: „Let me be your doom boy / we could hold hands / listening to Slayer / in my Dodge Caravan.“ Diese Kombination aus Härte und Augenzwinkern ist nicht nur sehr selten, sondern auch ein enormes Vergnügen. Blunt Force Concussion führt das mit einem klasse Riff, einer klasse Melodie und mehrstimmigem Gesang als Bonus fort. Spätestens beim gewitzten, wuchtigen und originellen Elvis ‘77, das an die wunderbaren Piebald erinnert, ist klar: Hier haben wir es mit einem ganz großen Wurf zu tun, und The Dirty Nil haben ihre Frustration über Pandemie und all die anderen Tragödien der Welt offensichtlich in eine riesige Attacke aus Energie und Kreativität verwandelt. „Das war die einzige Sache, über die wir noch Kontrolle besaßen, während die Menschheit machtlos erschien“, sagt Bentham über die gemeinsame Arbeit am Album. „Es war eine Gelegenheit, in der wir auch mal ein paar Büchsen Bier öffnen und ein paar Tunes spielen konnten – und uns auf das fokussieren konnten, was für uns letztlich noch möglich war: das größte Rock’n’Roll-Album aller Zeiten aufnehmen. Es war der verrückteste, irrste und wackeligste Prozess einer Albumproduktion, an dem ich je beteiligt war. Körperlich und geistig war ich ein totales Wrack. Als ich dann die ersten Mixe hörte, habe ich fast geweint, weil ich so glücklich darüber war.“
Damage Control ist ein Moment, der diese Begeisterung schnell nachvollziehbar macht: Es ist einer von vielen Songs auf dieser Platte, der schon nach ein paar Sekunden ein unwiderstehliches, euphorisierendes „Yeah“-Gefühl auslöst. Hello Jealousy brilliert mit einem umwerfenden Refrain wie Green Day zu ihren besten Zeiten, Hang Yer Moon ist schräg und catchy wie Weezer auf Pinkerton, ergänzt um ein leicht psychedelisches Finale. Ride Or Die findet eine erstaunliche und spektakuläre Schnittmenge aus The Offspring und Motörhead, Done With Drugs vereint wieder klasse Gitarrenarbeit mit ein bisschen Selbstironie („I’m done with drugs / hope they’re done with me“), To The Guy Who Stole My Bike thematisiert die Idee, dass sich letztlich im Leben alles ausgleicht, einschließlich der heimlichen Hoffnung, dass vielleicht ja die Bremsen versagen, wenn der Dieb gerade „down the hill to hell“ unterwegs ist.
Man hat bei Fuck Art (der Albumtitel geht auf ein Erlebnis in einem Volkshochschulkurs für Malerei zurück) einen der seltenen Fälle vor sich, in denen eine Band genau um ihre Stärken weiß, sich aber nicht darauf ausruht, sondern sie gezielt perfektioniert. „Ich glaube, wir besitzen ein ziemlich ausgeprägtes Wissen und Verständnis für das, was wir machen – und wir fühlen uns auch wohl damit“, meint Bentham. „Ich bin stolz darauf, was wir geleistet haben und darauf, wie wir weiterentwickelt haben und, soweit es möglich war, in moderne Klanglandschaften vorzudringen. Aber wir haben dafür nicht die Kernelemente unseres Sounds geopfert. Wir haben da etwas, und das haben wir nie verbogen, auch wenn wir manchmal Druck von außen bekommen haben, genau das zu tun.“
One More And The Bill klingt wie die pure Freude, mit den Jungs ein bisschen Krach zu machen, weil sich damit die Welt besser ertragen lässt, und packt noch etwas Kritik an medialem Overkill dazu. „Smash my TV, smash my phone / leave politics alone / go outside for a while”, singt Bentham und erklärt dazu: „Viele der Gefühle, die ich im Vorfeld des Albums hatte – und die sich auch in einigen der Songs wiederfinden – drehten sich darum, dass ich genervt war von Leuten, die insbesondere online auf einem hohen Ross daherkamen und anderen befahlen, was sie zu tun hätten, um dann schreckliche Dinge zu anderen zu sagen, die ihnen nicht sofort zustimmten. Ich habe die Anfangstage von Social Media miterlebt und ich glaube, dass es genereller Konsens ist, dass sich die sozialen Netzwerke im schlimmsten Zustand aller Zeiten befinden. Nie zuvor waren sie so toxisch, und das ist enorm deprimierend – jeden Tag erweisen sie sich als flammenzüngelnde Müllbrände. Und trotz allem hängen unsere Leben irgendwie ein Stück weit von ihnen ab.“
Da sind dann also doch ein paar ganz aktuelle Probleme, auf die The Dirty Nil zumindest indirekt verweisen, mit einem Sound, der praktisch immer so klingt wie in Possession: Der Refrain stiftet Gemeinschaft, die Strophe unterstreicht Individualität, das Ganze wird getragen von Kraft und Lust auf Überraschungen. Es ist ein perfekter Song auf einem fast perfekten Album.