Jeder kennt das wahrscheinlich. Diesen einen Typen, von dem die Freunde immer erzählen, dem man selbst aber nie begegnet ist. Nennen wir ihn Gordon. Irgendjemand erzählt von der ersten Begegnung mit ihm und ist ganz begeistert, dann noch jemand, dann noch jemand. Fast kann man ein bisschen eifersüchtig werden. Gordon scheint klasse zu sein, intelligent, verständnisvoll, witzig, tiefgründig, loyal, sensibel, voller guter Geschichten. Bloß hat man ihn blöderweise noch nie selbst getroffen.
So ähnlich erging es mir mit den Get Up Kids. Ein Freund, auf dessen Meinung (und Musikgeschmack) ich viel gebe, hatte von ihnen geschwärmt, dann noch einer, dann noch einer. Ich war sicher, dass mir diese Band gefallen würde, vielleicht sogar ein Fixstern für mein musikalisches Universum sein könnte. Aber es hat sich einfach nicht ergeben. Wir haben uns wohl ein paarmal knapp verpasst, hatten dann kurz anderes im Sinn und irgendwann war es zu spät. Damals, noch im alten Jahrtausend, gab es einfach so viel andere Musik, mit der ich mich beschäftigen wollte (oder die sich noch aggressiver aufdrängte). Später, als vielleicht mehr Zeit (oder mehr Interesse an musikhistorischer Recherche) gewesen wäre, hatte sich die Band dann einfach verabschiedet. Mit anderen Worten: Ich habe Gordon nie getroffen.
Heute ändert sich das. Die Get Up Kids, die sich 2005 aufgelöst hatten und seit 2009 wieder gemeinsam live spielen, sind im Conne Island zu Gast. Ihr Konzert in Leipzig fällt genau auf den Tag, an dem ihr sechstes Album Problems erscheint. Nicht nur wegen dieses bedeutenden Datums in der Geschichte dieser Emo-Helden fühle ich mich ein bisschen unwürdig. Ich treffe kurz vor Beginn der Show einen befreundeten DJ, der mir erzählt, wie die Musik dieser Band einmal fast sein Leben gerettet hat. Später erkenne ich: Er ist bei weitem nicht der einzige Gast, der eine so innige Bindung zu diesen Songs hat. Es ist so ein Abend, an dem ich das Gefühl habe: Ich darf eigentlich nicht hier sein, bevor ich nicht nachgewiesen habe, wie groß meine Identifikation mit dieser Musik ist, am besten durch eine besonders lange Freundschaft mit Gordon.
Doch dieses Gefühl wird schnell zerstreut. Matthew Pryor, Jim Suptic, Robert Pope, Ryan Pope und James Dewees haben keinerlei Lust darauf, die Show im Conne Island zu einer elitären Veranstaltung zu machen, bei der man erst seine seltenen Split-Singles vorzeigen muss, bevor man mitmachen darf. Das Konzert in Leipzig wird kein Nostalgie-Abend und auch kein Treff einer Sekte, zu dem man erst nach strapaziösen Initiationsritualen zugelassen wird. Stattdessen vermitteln die Get Up Kids den Eindruck: Dies ist ein Rockkonzert, jeder ist willkommen – und wir freuen uns aufrichtig, hier spielen zu können.
Satellite eröffnet die Show. Es ist auch der Opener für das aktuelle Album, von dem dann in Leipzig insgesamt sechs Songs zu hören sein werden, und die Ankündigung von Jim Suptic, der Abend in Leipzig werde aus „some new songs, some old songs and some in between“ bestehen, erweist sich schnell als zutreffend. Schon bei Dottie, dem zweiten Song der Get Up Kids an diesem Abend, liegen sich erwachsene Männer in den Armen. Bei No Love flippt eine junge Dame aus, die hier ganz offensichtlich ihr Lieblingslied bejubelt, bei Don’t Hate Me gerät ein Typ in Ekstase, der zuvor die ganze Zeit bloß versonnen herumgestanden hatte. Im Zugabenblock gibt es dann sogar ein kleines Moshpit vor der Bühne.
Auch wenn es zwischen der jungenhaften Stimme von Matthew Pryor und dem unverkennbar nicht mehr jungenhaften Körper, aus dem diese Stimme kommt, eine erhebliche Diskrepanz gibt, ist offenkundig, wie froh hier alle sind, dass es die Get Up Kids noch/wieder gibt. Viele der Fans sind alt genug, um die ersten Erfolge der Band aus Kansas miterlebt zu haben, den Nachgeborenen wiederfährt wohl das unverhoffte Glück, eine Band live zu erleben, die gar nicht mehr existierte, als ihr persönlicher Erstkontakt mit ihr stattfand. Meine persönlichen Highlights sind Holiday, das als erste Zugabe erklingt, und Close To Me als The-Cure-Coverversion zwei Lieder später.
Sichtlich genießen auch die Get Up Kids selbst diesen Abend, sie mischen sich nach dem Konzert unter die Fans und lassen sich später in einem Club um die Ecke von mir auch noch die Besonderheiten bei der Zubereitung lokaler alkoholischer Spezialitäten erklären (falls die Show am folgenden Abend in München insbesondere in der Rhythmussektion etwas ramponiert wirken sollte, könnte die Ursache „Ilse“, „Erika“ oder „Gisela“ heißen). Sie berichten von der seltsamen Situation in Kansas während des amerikanischen Bürgerkriegs und von der Erinnerung an ihre ersten Konzerte in Ostdeutschland, und sie tanzen sogar zu obskurer Wavemusik. Diese inoffizielle Aftershowparty zeigt ebenso wie das Konzert zuvor im Conne Island, was die Musik der Get Up Kids auszeichnet: Sie vereint große Ernsthaftigkeit mit Lust auf Ausgelassenheit, sie kann wild sein und trotzdem erwachsen. Mit anderen Worten: Gordon, es war schön, dass wir uns endlich ins Herz schließen konnten.