The Mountain Goats – „Dark In Here“

Künstler*in The Mountain Goats

The Mountain Goats Dark In Here Review Kritik
The Mountain Goats sehen „Dark In Here“ als Gegenstück zu „Getting Into Knives“.
Album Dark In Here
Label Merge Records
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Ein Tonstudio kann sich schnell anfühlen wie eine Zeitkapsel. Man geht hinein und konzentriert sich dann auf die Arbeit an einer Platte, über Wochen, manchmal Monate. Man versucht, jede wache Minute der wertvollen Zeit zu nutzen für ein optimales Ergebnis. Man sieht nur vertraute Gesichter, das Essen wird geliefert, von dem, was draußen vor der Tür passiert, bekommt man mit diesem Tunnelblick auf die kreative Arbeit nichts mit.

The Mountain Goats haben diese Erfahrung bei Dark In Here gleich auf doppelte Weise gemacht. Erstens ist der Ort, an dem diese zwölf Lieder aufgenommen wurden, tatsächlich so etwas wie eine Zeitkapsel, in der eine goldene Ära eingefroren ist: In den Fame Studios in Muscle Shoals, Alabama, sind einige der legendärsten Songs der amerikanischen Musikgeschichte aufgenommen worden. Dort haben The Mountain Goats sich im März 2020 einquartiert. „Sobald man das Gebäude betritt, wird man in eine andere Zeit versetzt, vielleicht nicht mehr in die Anfänge und die Blütezeit von Muscle Shoals in den 1960er Jahren, aber doch in die lockere After-Party Mitte der 1970er Jahre. Die Stimmung ist absolut authentisch und sehr, sehr greifbar. Der Raum, in dem wir uns eingerichtet haben, ist der Raum, in dem Percy Sledge When A Man Loves A Woman sang, in dem Etta James Tell Mama aufnahm und in dem Aretha Franklin I Never Loved A Man (The Way I Love You) eingespielt hat“, sagt Bassist Peter Hughes.

Zweitens fielen die Sessions in eine Phase, die sich im Rückblick als Zeitenwende erkennen lässt. Als Hughes mit Schlagzeuger Jon Wurster, Multiinstrumentalist Matt Douglas und Sänger John Darnielle (der lange Zeit das einzige Mitglied der Mountain Goats war) ins Studio ging, war Covid-19 zwar bereits in den internationalen Schlagzeilen angekommen, aber noch nicht in der amerikanischen Realität. Erst recht nicht in den Köpfen der Band, die unmittelbar zuvor erst Getting Into Knives in den Studios von Sam Phillips in Memphis aufgenommen hatte, also praktisch direkt von einem historischen Südstaaten-Studio ins nächste weiterzog. „Die Zeit im Studio ist selbst in ganz normalen Zeiten eine einzigartige Erfahrung. Du bist im Grunde in einer Blase, sodass du die meiste Zeit vergisst, dass die Außenwelt überhaupt existiert. Es war also kein großer Sprung, von der Abgeschiedenheit in Memphis – um es mit den Worten von The Hold Steady auszudrücken – zur Quarantäne in Muscle Shoals zu kommen“, erzählt Hughes.

Das ist ihnen eindeutig auch deshalb so mühelos gelungen, weil The Mountain Goats offenkundig aus Menschen bestehen, die ihr gesamtes Leben in Musik denken. So ist es zu erklären, dass sie wenige Wochen nach Getting Into Knives schon wieder eine Platte gemacht haben (sie betrachten das kontemplative, intensive Dark In Here als Gegenstück zum recht üppigen, lebhaften Werk aus Memphis, wie Yin und Yang). So überrascht es kaum, dass sie nach Ende der Sessions so verwundert waren über den Gegensatz zwischen der Harmonie im Studio und den dramatischen Ereignissen in der Welt draußen. Und so lässt sich auch leicht nachvollziehen, wie fasziniert sie von der Arbeit in den Fame Studios waren.

„Wenn man hier nach einem übergeordneten Thema sucht, dann ist es das Unglück, denn alle Songs nehmen entweder eines vorweg oder reflektieren eines, das bereits geschehen ist“, schreibt John Darnielle in den Liner Notes der Platte. Man hört das schon in den nicht mal anderthalb Minuten des Openers Parisian Enclave, der beispielsweise durch ein Tamburin und Handclaps viel Schwung und Tempo bekommt. Das folgende The Destruction Of The Kola Superdeep Borehole Tower (der Songtitel bezieht sich auf das tiefste Loch, das Menschen je gebohrt haben) strahlt Aggressivität, Entschlossenheit, Unruhe und Aufgewühlt aus, etwa durch die Schlagzeugwirbel und die Orgel, die Altmeister Spooner Oldham (Bob Dylan, Linda Ronstadt, Neil Young) beigesteuert hat, der auch auf etlichen weiteren Tracks als Gast dabei ist, ebenso wie Gitarrist Will McFarlane (Bonnie Raitt) als weitere Muscle-Shoals-Ikone. „Wir spielen selbst schon lange genug als Band zusammen, um ein gewisses Maß an musikalischer Telepathie entwickelt zu haben. Aber diesen beiden Jungs zuzuhören, wie sie in Echtzeit auf uns und einander reagieren, offenbarte eine ganz andere Ebene der Verbundenheit. Das grenzt ans Übernatürliche“, schwärmt Hughes über die Zusammenarbeit.

Der Titelsong Dark In Here strahlt ein großes Unbehagen aus, ebenso das latente Gefühl, dass dieses Lied jederzeit eskalieren könnte, was es dann im Schlussteil zumindest ein bisschen auch tut. Bass, Backgroundgesang und Zeilen wie „Let my phobias control my habits“ scheinen in Lizard Suit einzig das Ziel zu verfolgen, dieses Lied möglichst geheimnisvoll klingen zu lassen, und sie sind ziemlich erfolgreich dabei, bevor auch hier alles in einem chaotischen Finale mündet.

Dem stehen Stücke gegenüber, mit denen The Mountain Goats ihre Vielseitigkeit beweisen wie When A Powerful Animal Comes mit seinem Jazz-Gefühl oder The New Hydra Collection mit einigen Latin-Elementen. Vor allem aber finden sich auf Dark In Here immer wieder Lieder wie die Single Mobile, die ebenso reif wie gelassen und einnehmend sind. To The Headless Horseman wird auf wunderschöne Weise schwebend, in Before I Got There stecken ganz viel Wärme und Seligkeit, ohne dass der Songs belanglos würde.

Aufhorchen lässt auch The Slow Parts On Death Metal Albums, nicht nur mit seinem großartigen Songtitel (es geht darum, wie die Metal-Szene im Kalifornien der späten 1980er Jahren auch eine Möglichkeit bot, Gemeinschaft und Identität zu finden), sondern auch mit einem tatsächlich recht heftigen Bass-Riff und einer ansonsten sehr reflektierten, etwas nostalgischen Atmosphäre. Arguing With The Ghost Of Peter Laughner About His Coney Island Baby Review zeigt The Mountain Goats ebenfalls als eine Band, die genau um ihre Stärken weiß, ohne deshalb in Selbstverliebtheit oder Routine zu verfallen. Let Me Bathe In Demonic Light wird mit seinem leichtfüßigen Groove ein sehr schöner Abschluss für Dark In Here. Auch dies ist kein Lied, das Bäume ausreißen will, aber wenn John Darnielle darin fragt „Who among you / who’s coming with me“, dann dürfte er dennoch eine stattliche Gefolgschaft finden.

Dark In Here als Video.

Website der Mountain Goats.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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