Künstler | The Somnambulist | |
Album | Hypermnesiac | |
Label | Slowing Records | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Der Titel des vierten Albums von The Somnambulist soll wohl darauf verweisen, dass die Amnesie zum Normalzustand der Welt geworden ist. Wir merken uns nichts mehr, weil wir in einem Zeitalter der Hyperinformation leben, das unsere Speicherkapazitäten überfordert, oder uns vorgaukelt, sie nicht mehr benutzen zu müssen. Alles zu vergessen, bedeutet dabei natürlich zwangsläufig auch: keine Prinzipien mehr haben, keine Orientierung, keine Verantwortung.
Man kann diese Analyse zutreffend oder dieses Wortspiel clever finden, in jedem Fall zeigt das heute erscheinende Hypermnesiac, wie ernst Marco Bianciardi (Gesang, Gitarre), Thomas Kolarczyk (Bass) und Leon Griese (Schlagzeug) ihre Musik nehmen. Das international besetzte Trio mit Hauptquartier in Berlin ist keineswegs schlafwandelnd unterwegs, sondern sehr reflektiert, oft sogar verkopft. Ein Titel wie At Least One Point At Which It Is Unfathomable (benannt nach einer Fußnote in Sigmund Freuds Lehrbuch zur Traumdeutung) zeigt das: Es ist höchst gekonnt und einfallsreich, aber eben auch anstrengend in seiner Virtuosität und Originalität.
Das trifft auch in vielen anderen Momenten zu, obwohl The Somnambulist dabei auch durchaus kraftvoll sein können. Im Kern dieser sieben Lieder stehen Rock und Frustration, was oft an die Grunge-Ära denken lässt. Der Album-Auftakt Film klingt wie Pearl Jam in abstrakt, das etwas härtere No Sleep Until Heaven hätte zu Soundgarden gepasst, das Groove-lastigere Doubleflower lässt erahnen, was herauskommen könnte, hätten sich Incubus an Stoner Rock versucht. No Use For More, das beste Lied auf Hypermnesiac, nennt die Band recht zutreffend eine „Math-Ballad“, bei Tom’s Still Waiting (schon wieder so ein überschlaues Wortspiel!) holpert und rumpelt es zwar ordentlich, aber allzu viele Spuren von Tom Waits sind darin nicht zu finden.
Der Schlusspunkt ist ein Instrumental und zeigt, dass The Somnambulist auch ohne die sonst sehr dominante Stimme von Marco Bianciardi funktionieren. In Ten Thousand Miles Longer (sie nennen den Song sowohl ein Sequel als auch ein Prequel zu A Ten Thousand Miles Long Suicide Note vom vorherigen Album aus dem Jahr 2017) kämpfen Gitarre und Klavier um die Vorherrschaft im Sound, ebenso eine Rock-Ästhetik und Jazz-Methoden, als deren Repräsentanten man diese Instrumente betrachten kann, und zwar achteinhalb Minuten lang. Auch das ist innovativ, aber deutlich unterhaltsamer wäre dieses Trio wohl, wenn Rock irgendwann tatsächlich vollständig über Jazz obsiegen würde – und damit auch die Möglichkeit entstünde, unverkrampft, uneitel und unmittelbar zu sein.