Am 5. Dezember 2019 spielte Thees Uhlmann im ausverkauften Werk 2 in Leipzig. Vier Tage vorher war in China der erste bestätigte Fall einer Covid-19-Infektion registriert worden. Natürlich ahnte damals noch niemand, welche dramatischen Auswirkungen diese Infektionskrankheit für die Welt insgesamt und auch für die globale Livemusikbranche haben würde. Sechs Wochen später war das ebenfalls nicht abzusehen, als der ehemalige Tomte-Frontmann an gleicher Stelle eine Lesung aus seinem Buch Thees Uhlmann über Die Toten Hosen bestritt, während ungefähr zur selben Zeit die ersten Corona-Fälle in Europa gemeldet wurden. So unglaublich es damals erschienen wäre, ihm eine mehr als sechs Monate währende Auftrittspause und den totalen Kollaps des Konzertgeschehens in Deutschland vorherzusagen, so unwirklich fühlt es sich jetzt an, ihn wieder live zu sehen, ein Bier im Plastickbecher zu bestellen, an Grillwagen und Merchandising-Stand vorbeizuschlendern oder nach anderthalb sehr amüsanten Stunden noch nach einer Zugabe zu verlangen, was mit dem Kettcar-Cover 48 Stunden, dem Tomte-Hit Die Schönheit der Chance und dem wunderbaren Ein Satellit sendet leise belohnt wird.
Denn trotz dieser erfreulichen Momente ist die Pandemie natürlich längst nicht vorbei, die Fallzahlen steigen gerade wieder, Massenveranstaltungen sind weiterhin verboten. Die Umstände für das Gastspiel auf dem Agra-Gelände sind deshalb sehr besondere. „Songs & Stories“ heißt das Format, in dem Thees Uhlmann seine Musik (aus dem Solowerk und Tomte-Katalog) mit Auszügen aus dem DTH-Buch kombinieren soll. Das soll einerseits sicherstellen, dass bei den Events das weiterhin gültige Tanzverbot eingehalten wird. Andererseits kann der 46-Jährige so mit kleinerer Besetzung durchs Corona-geplagte Land reisen. Auf der Bühne steht er nicht mit seiner sechsköpfigen Band wie im Dezember, sondern bloß mit Rudi Maier und Simon Frontzek, die wichtige Mitstreiter beim aktuellen Album Junkies und Scientologen waren.
Statt aus dem Buch zu lesen, erzählt Thees in Leipzig dann zwar lieber seine fünf liebsten Tour-Anekdoten und offenbart auch, dass er diesmal nicht mit 27, sondern nur mit 6 Leuten unterwegs ist. Auch im Publikum in Leipzig geht es luftiger zu. Die „Songs und Stories“ werden auf dem Agra-Gelände als Picknick umgesetzt, für die einzelnen Decken gibt es markierte Plätze, vorgeschriebenen Mindestabstand und eine maximal zulässige Personenzahlen pro Gruppe. Insgesamt sind höchstens 999 Gäste erlaubt. „Wir hatten uns zunächst auch mit dem Konzept vom Konzert im Autokino beschäftigt. Wir haben aber schnell gemerkt, dass das kein Format ist, das wir durchführen möchten. Es passt auch nicht zu den Künstlern, die wir betreuen. Dann kam die Idee mit dem Picknick auf. Wir haben ein Hygienekonzept erstellt und sind froh, damit jetzt zeigen zu können: Wir sind noch da, es gibt noch Konzertkultur“, sagt Marco Fleischhauer, der bei Landstreicher-Konzerte das Booking für Shows in Leipzig macht und als lokaler Veranstalter des Event auf dem Agra-Gelände auf die Beine gestellt hat.
Insgesamt werden in diesem Picknick-Format zwölf Acts an fünf Locations zu sehen sein, die Shows von Thees Uhlmann in Leipzig und Dresden gehören dazu. „Es läuft super bisher“, lautet das Zwischenfazit von Fleischhauer. „Unter den momentanen Bedingungen möchten wir das bestmögliche Konzerterlebnis anbieten. Durch die Picknick-Komponente hat es einen eigenen Charakter, es ist gemütlich und auch exklusiver durch die begrenzte Kapazität. Die meisten Künstler, die auftreten, würden normalerweise vor viel größerem Publikum spielen können.“
Das gilt für Thees Uhlmann ebenso wie für Faber, Lea oder Die höchste Eisenbahn, die ebenfalls im Picknick-Format zu erleben sind. Man kann vermuten, dass viele Acts gerade händeringend nach Engagements und Einnahmen suchen, zugleich gibt es wohl auch Künstler, die für sich und ihr Publikum aktuell eine Null-Risiko-Strategie fahren. Marco Fleischhauer hat sich jedenfalls einige Absagen für das Picknick-Format eingehandelt. „Wir hatten weitaus mehr Künstler angefragt, als jetzt auftreten. Ob die Bedenken hinsichtlich des Formats oder einer Ansteckungsgefahr hatten, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen: Wir übererfüllen die Auflagen und das Publikum verhält sich bis jetzt sehr verantwortungsvoll.“
Das bestätigt sich in Leipzig. Im Publikum sind viele Pärchen, man sieht auch Eltern mit Kindern und ein paar Fans mit Tote-Hosen-Tourshirt, die mit einem Cover von Liebeslied entloht werden. Die Show beginnt mit Fünf Jahre nicht gesungen, was nach der langen Corona-Pause einen besonderen Zungenschlag bekommt, Thees Uhlmann geht in seinen Ansagen kurz auf „diese seltsame Zeit“ ein und legt in der Setlist mit seinem „Danke für die Angst“-Trio einen Schwerpunkt auf das aktuelle Album. Rudi Maier steuert Gitarre, Bass und/oder dezente Drums bei, Simon Frontzek ist meist an den Tasten, gelegentlich ebenfalls an der Gitarre aktiv.
„Sonntagabend ist die beste Zeit für Rock’N’Roll“, lautet eine der vielen zweifelhaft-skurrilen Ansagen von Thees. In der Tat erinnert das Picknick an einen Festival-Sonntag gegen 14 Uhr, wenn alle schon ordentlich zerrockt sind, aber sich von ein paar Lieblingsliedern dann doch noch einmal anstacheln lassen möchten. Anlass dazu gibt es natürlich reichlich im Programm, außerdem hat sich pünktlich zum Konzertbeginn der Regen verzogen (der schockierenderweise genau bei der Zeile „Es regnet immer da wo es schon nass ist“ aus Mädchen von Kasse 2 zurückkommt), die Fans dürfen selbst mitgebrachte Sandwiches verzehren und sogar rauchen. Für Thees Uhlmann ist es schon das sechste Konzert in diesem Format, gegen Ende offenbart er kurz, dass er keine Lust mehr hat, über die Pandemie zu reden und beschließt die Show dann doch mit einem unterstreichenswerten: „Durchhalten, Digger! Tschüss, Corona!“
Proftigier auch in unsicheren Zeiten sollte man übrigens weder dem Künstler noch dem Veranstalter unterstellen. „Der Aufwand ist bei Open-Air-Veranstaltungen immer sehr hoch, etwa wegen der Lärmschutz- oder Umweltauflagen. Diesmal war er noch deutlich höher, wegen der Abstimmungen mit den Behörden zu den Corona-Bestimmungen und weil wir ein ganz neues Konzept entwickeln mussten. Normalerweise würde man so einen Aufwand eher für Shows mit 5000-10000 Zuschauern betreiben“, betont Marco Fleischhauer. „Wir verdienen an diesen beiden Wochenenden kein Geld. Aber wir wollten ein Zeichen setzen.“
Die weiteren Termine von „Songs & Stories“
27.08. Hannover, Expo Plaza
28.08. Stade, Lichtspielgarten
29.08. Hamburg, Stadtpark
03.09. Lingen, Arena Sommergarten
Die nächsten Picknick-Konzerte in Leipzig:
7.8. Provinz
8.8. DOTA
9.8. Die höchste Eisenbahn