Thomas Glavinic, Galerie im Volkspark, Halle

Thomas Glavinic Lesung Galerie im Volkspark Halle
Thomas Glavinic stellt seinen fast druckfrischen neuen Roman vor.

Das Timing ist besonders. Der Jonas-Komplex, der neue Roman von Thomas Glavinic, kann nach dem Erfolg von Das Leben der Wünsche und Das größere Wunder sicher als ein Buch gelten, das heiß erwartet wird. Es ist gerade erst vor ein paar Tagen erschienen, die Lesung in Halle ist die dritte seit der offiziellen Präsentation in Berlin. So früh gemeinsam mit dem Autor in die Welt eines Romans eintauchen zu können, hat unter anderem den reizvollen Effekt, dass man das gerade angeschaffte Buch dann mit seiner Stimme im Ohr lesen kann – so, wie er es auch in seinem Kopf hört.

Der Autor selbst, 1972 in Graz geboren und mittlerweile in Wien (wie man unverkennbar hört) und Rom (wohin sein Look aus Glatze, Bart und schwarzem V-Neck-Sweater bestens passt) lebend, wird Der Jonas-Komplex nach diesem Abend noch fünf Mal im Rahmen der Leipziger Buchmesse vorstellen. An dem Termin in der Galerie im Volkspark in Halle scheint er allerdings nicht allzu viel Vergnügen zu finden.

Das liegt vor allem an der Moderation von Dramaturgin Doris Sossenheimer, die zwar wohlmeinend ist, aber immer wieder psychologisieren und kategorisieren will und mit Fragen in diese Richtung gleich mehrfach Schiffbruch erleidet. So auch gleich mit der ersten, die herausfinden möchte, wie Thomas Glavinic seine Figuren erfindet. „Ich glaube, ich habe noch nie eine Figur erfunden. Fast alle, auch in meinem neuen Roman, haben sich mehr oder weniger aufgedrängt“, erwidert der Autor.

Lesung Thomas Glavinic Buchmesse
Mit Moderatorin Doris Sossenheimer wird Thomas Glavinic nicht warm.

Er bleibt auch danach charmant verwundert, gerade deshalb meint man an diesem Abend in Halle bei ihm genau das Unwohlsein mit der Lesungs-Situation auszumachen, das er so köstlich in Das bin doch ich (2007) geschildert hat und hier erneut zu empfinden scheint. Er windet sich ob der Fragen der Moderatorin, seine Verteidigungsstrategie im Verlaufe der Lesung heißt witzeln („Ich habe nur die schlechten Stellen gelesen. Ich will ja, dass sie das Buch noch kaufen.“) und Contra geben. Er könne seine Figuren oft selbst nicht interpretieren und bis ins Letzte verstehen, ohnehin sei er kein Freund davon, die Literatur zu Tode zu analysieren, betont er: „Man muss von einem Buch auch einmal einfach mitgerissen werden. Und ihm die Chance geben, sich in einem auszubreiten.“

Gerade wegen dieser Reibung wird es eine spannende, gelungene Lesung. Glavinic stellt Ausschnitte aus jedem der drei Handlungsstränge vor, die Der Jonas-Komplex bietet, und die einen Wiener Schriftsteller oder einen 13-jährigen Jungen genau ein Jahr lang begleiten. Sobald er nicht liest, setzt er die Brille ab, so zuverlässig, dass man sich bald wundert, dass er sie immerhin beim Umblättern der Seiten auflässt. Und seine bescheidene Entschuldigung zu Beginn, er sei auf den ersten Terminen einer Lesereise immer schlecht in Form, erweist sich als unbegründet: Es macht Spaß, ihm zuzuhören.

Besonders gilt das natürlich für die Aussagen jenseits des Buches. Und trotz seiner gelegentlichen Zweifel, ob er hier wirklich an einem passenden Ort ist, erzählt er unverkennbar gerne über sein Werk. Über seine angebliche Verwandtschaft zum „Austrian Feel Bad Cinema“, die ihm in den USA unterstellt wurde. Über die Zeit als Motiv, das in seinen letzten Büchern immer wichtiger geworden sei. Über sieben oder acht frühe Romanversuche, die er allesamt („Ich habe viel geweint“) verworfen hat. Und über seine Weigerung, sich innerhalb der österreichischen Literaturszene zu verorten.

Schließlich, kurz vor Ende, offenbart er auf eine Frage aus dem Publikum hin eine weitere seiner Strategien im Umgang mit potenziell seltsamen Lesungen: Ironie. Sie sei für ihn, so stellt er klar, nicht nur ein Hintertürchen, um sich nicht festlegen zu lassen, oder ein Stilmittel, um launige Passagen schreiben zu können. Sondern eine Methode zum Ertragen der Welt.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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