Tinariwen Amatssou

Tinariwen – „Amassakoul“

Künstler*in Tinariwen

Tinariwen Amassakoul Review Kritik
Jüngere Mitglieder beflügeln den Sound von Tinariwen auf „Amassakoul“.
Album Amassakoul
Label Wedge
Erscheinungsjahr 2003
Bewertung

Tamascheq ist die Sprache der Tuareg, sie wird von rund einer Million Menschen im Norden Afrikas gesprochen, der Heimat dieses Nomadenvolkes. Man muss diese Sprache nicht beherrschen, um einen besonders wichtigen Begriff für Amassakoul zu identifizieren. Denn blickt man auf die Tracklist des zweiten offiziellen Albums von Tinariwen, gibt es nur ein Wort, das gleich zweimal auftaucht. “Ténéré” lautet dieses Wort, zu Deutsch: die Wüste. Der Albumtitel lässt sich als „der Reisende“ übersetzen. Die Kombination dieser beiden Begriffe macht den Kern dessen aus, was diese Band ist.

Der französische Reporter Francis Dordor, der die Gruppe während der Aufnahmen zu dieser Platte im Frühjahr 2003 getroffen hat, schildert ihren Background in den Liner Notes zu dieser Wiederveröffentlichung sehr treffend. Tinariwen kommen aus „einer Region, in der die Bevölkerung in den vergangenen 150 Jahren unter den Folgen von Herausforderungen und Interessen gelitten hat, an denen sie nicht beteiligt war. Alles begann mit der Kolonialisierung und einer Reihe von Gräueltaten. Dann kam die Entkolonialisierung, die Aufteilung des Landes in Einzelteile, die diese Nomadenstämme in Grenzen zwang, die für sie keinen Sinn ergaben. Dann folgten Rebellion, Unterdrückung, Dürre. Und jetzt: Dschihad, Bruderkriege, interethnische Konflikte, Menschenhandel, grenzenlose Armut und ein Leid, für das es kein Heilmittel gibt.“

Man könnte nun cheesy sein und sagen: Musik ist doch dieses Heilmittel! Tinariwen haben allerdings selbst genug Trauma erlebt, um da zu widersprechen. Ibrahim Ag Alhabib, Gründer und Kopf des Kollektivs, musste als 4-Jähriger mit ansehen, wie sein Vater vom Militär exekutiert wurde, weil er sich gegen die Regierung gestellt hatte. Seine Kindheit in den 1960er Jahren verbrachte er dann größtenteils bei den Großeltern und in Flüchtlingslagern. Nach eigenen Angaben ist er in seinem Leben nur einen Monat zur Schule gegangen, dafür saß er schon als 14-Jähriger ein Vierteljahr im Gefängnis. Später ließ er sich, wie viele junge Tuareg-Männer (und auch einige andere spätere Mitglieder der Band), vom Gaddafi-Regime rekrutieren, ausbilden und bewaffnen, er kämpfte unter anderem in Tschad, im Libanon und in der westlichen Sahara. „Ich habe viele meiner Freunde sterben sehen“, sagt er über diese Zeit.

Zugleich ist unverkennbar, wie kraftvoll diese Musik als Element von Zusammenhalt, Trost und Veränderung sein kann, und wie sehr die Musiker selbst an diese Kraft glauben. Die Anfänge ihres Miteinanders reichen bis in die 1970er Jahre zurück, ihre ersten Lieder verbreiteten sich auf kopierten Kassetten über den afrikanischen Kontinent. Kurz vor den Aufnahmen für Amassakoul stießen einige jüngere Mitglieder dazu wie Bassist Eyadou Ag Leche, Percussionist Said Ag Ayad, Rhythmusgitarrist Elaga Ag Hamid und Gitarrist Abdallah Ag Lamida.

„Tinariwen waren die ersten, die eine uralte Kultur von den volkstümlichen Klischees befreiten, die sie lähmten, die ersten, die sie essenziell und universell machten. Unter dem bezaubernden Zusammenprall der Rhythmen, unter den Wellen des Gesangs, wo sich die Not unerbittlich in Mut verwandelt, werden selbst profane Ohren Zeuge der Reise eines ängstlichen Widerstands gegen alles, was das zerbrechliche Gleichgewicht dieses seltsamen Paradieses zu zerstören droht, ohne Bäume oder Wasser, aber auch ohne Druck, außer dem, den die Natur ausübt“, beschreibt Francis Dordor ihre einmalige Wirkung.

So wird der Auftakt Amassakoul’n’ténéré sofort packend, dank eines guten Grooves und des Call-and-Response-Gesangs, bei dem Ibrahim Ag Alhabib mit einem Frauenchor interagiert. Ähnlich lebendig ist später Chet Boghassa, das trotz der vielen Elemente nicht zerfasert, weil da die Gitarrenfigur als fast hypnotisches Zentrum platziert wird, um das alles kreist. Oualahila Ar Tesninam verströmt eine brodelnde Energie, die sehr tiefe Stimme von Issa Dicko ist ein extrem cooles Element und ein sehr reizvoller Kontrast dazu.

An anderer Stelle sind Lieder wie Chatma oder Amidinin höchst gelassen. Aldhechen Manin bekommt durch den Bass vergleichsweise viel Präsenz, Alkhar Dessouf klingt wie ein Gebet oder eine Beschwörung, Arawan experimentiert mit Sprechgesang und sehr vielen Stimmen. Assoul überrascht nicht nur mit einer prominenten Flöte (Ibrahim Ag Alhabib erklärt, dass das handliche Instrument mit vier Löchern namens t’zamârt für Nomaden viel besser geeignet sei als etwa eine Gitarre, für deren meisterhafte Beherrschung er sonst so gerühmt wird), sondern auch mit einem Quasi-Drone im Hintergrund, erzeugt durch ein Didjeridoo – und nicht zuletzt durch die Tatsache, dass es instrumental bleibt, statt Geschichten zu erzählen, wie es sonst in dieser Musik so wichtig ist.

Auch in Ténéré Daféo Nikchan ist die Flöte als reizvolles Detail zu hören, die ersten Sekunden des Stücks zeigen indes, wie universell der Sound von Tinariwen letztlich ist: Man könnte in den ersten Takten glauben, gleich würde ein Song von den Doors, von Kyuss oder Tom Waits entstehen, aber dann entfaltet sich ein ganz eigenständiger, unnachahmlicher, in seiner Faszination kaum zu fassender Sound. Eh Massina Sintadoben und der bisher unveröffentlichte Bonustrack Taskiwt Tadjat als Schlusspunkt der Platte unterstreichen das: Alles hier klingt nach Gemeinschaft, nicht nur in der Performance, sondern in der gesamten Entstehung.

Flea (Bassist der Red Hot Chili Peppers) hat den Klang von Tinariwen einmal als “the true sounds of freedom and yearning and deepest groove on the planet” bezeichnet. Es ist ein Sound von Schmerz und Aufbegehren, wie er auch in Blues, Reggae und Rap auszumachen ist. Letztlich zeigen die zwölf Tracks dieser Wiederveröffentlichung damit: Man muss nicht Tamascheq verstehen, um diese Musik zu verstehen.

Eine Live-Performance von Amassakoul’n’ténéré.

Website von Tinariwen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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