Tinariwen Amatssou

Tinariwen – „Amatssou“

Künstler*in Tinariwen

Tinariwen Amatssou Review Kritik
Mali und Nashville verbinden Tinariwen auf „Amatssou“.
Album Amatssou
Label Wedge
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung Bandfoto oben: (C) Beats International / Marie Planeille

Die Franzosen sind schon weg, die Deutschen werden folgen. Im Juni beginnen die derzeit mehr als 1000 Soldat*innen der Bundeswehr mit dem Abzug aus Mali, bis Mai 2024 wird der Einsatz dort beendet sein. Für das flächenmäßig achtgrößte Land Afrikas sind das keine guten Nachrichten, denn die Sicherheitslage ist dramatisch. 2020 gab es einen Militärputsch, 2021 ebenfalls. Al Kaida und Islamischer Staat sind auf dem Vormarsch.

Dass diese Terrorgruppen unter anderem Musik verbieten wollen, dürfte ein weiterer Grund sein, warum Tinariwen in so großer Sorge um ihre Heimat sind. Schon immer hat das 1979 gegründete Kollektiv, das sich aus Angehörigen des Tourag-Nomadenvolkes zusammensetzt, den Wert von Selbstbestimmung und Solidarität, von Mut und Miteinander besungen. Dass sie auch auf ihrem neunten Studioalbum Amatssou noch darum kämpfen müssen, dass die Rechte ihres Volks anerkannt werden und sie in Frieden leben dürfen, ist erschütternd. Aber Ibrahim Ag Alhabib, Touhami Ag Alhassane, Abdallah Ag Alhousseyni, Eyadou Ag Leche, Said Ag Ayad und Elaga Ag Hamid haben keinerlei Lust auf Kapitulation, wie schon der Albumtitel zeigt: In Tamashek, der Sprache der Touareg, bedeutet er so etwas wie „jenseits der Angst“.

Gleich zu Beginn der Platte wird dieses Credo sehr deutlich. In Arajghiyine singt Ibrahim Ag Alhabib zu einem eigentümlichen Rhythmus in einer Art von Call & Response übersetzt: „Alle Muße wird immer in weiter Ferne liegen, solange eure Heimat nicht befreit ist und alle Älteren dort in Würde leben können.“ In der Single Tenere Den thematisieren Tinariwen die Tuareg-Revolution in der Region Kel Adagh in Mali, mit ihrer bekannt freigeistigen Gitarre (diesen sehr individuellen Stil nennen sie „ishumar“ oder „assouf“, Letzteres bedeutet zu Deutsch „Nostalgie“), energischen Percussions und einer recht prominenten Geige.

Diese Instrumentierung verweist auf das zentrale Konzept von Amatssou: Noch mehr als sonst wollen Tinariwen hier die Gemeinsamkeiten von afrikanischer und westlicher Musik ausloten, insbesondere zwischen dem „Wüstenblues“, der ihnen den Grammy als Best World Music Album für Tassili (2012) und zwei weitere Nominierungen in dieser Kategorie eingebracht hat, und Countrymusik nordamerikanischer Prägung. Dazu passt auch die ursprüngliche Idee für die Entstehungsgeschichte des Nachfolgers zum 2019 veröffentlichten Amadjar.

2021 lud Jack White, ein langjähriger Fan, die Gruppe nämlich in sein Tonstudio nach Nashville ein. Bei diesen Sessions sollten auch Daniel Lanois und handverlesene lokale Country-Musiker dabei sein. Unter anderem wegen der Covid-Pandemie konnten Tinariwen aber nicht aus Mali in die USA kommen. Als Alternative sollte dann Lanois nach Afrika reisen, doch auch daraus wurde nichts. So arbeitete man schließlich über Online-Kanäle zusammen und verwirklichte die ursprüngliche Idee aus der Ferne. Tinariwen erschufen den Kern des Materials für Amatssou in Djanet, einer Oase in der Wüste Südalgeriens. Dort richteten sie sich ein provisorisches Studio in einem Zelt ein. Lanois war in seinem Studio in Los Angeles aktiv und steuerte dort unter anderem Pedal Steel bei, Wes Corbett und Fats Kaplin (Pedal Steel, Geige und Banjo, er hatte schon auf Tinariwens 2014er Album Emmaar bei einem Stück mitgespielt) fügten ihre Spuren in Nashville hinzu, der kabylische Perkussionist Amar Chaoui nahm seine Parts in Paris auf.

Diese sehr moderne und sehr digitale Entstehungsweise hört man den zwölf Stücken in keiner Weise an. Exemplarisch zeigt das Imidiwan Mahitinam: Der Song klingt so organisch, als würden sie diese Musik gerade erst live und spontan entwickeln, in einem Zelt in der Oase oder an einem Feuer in der Wüste. Ezlan lässt durch die Kombination aus Zugänglichkeit und Musikalität den Spirit von Country besonders spürbar werden, auch Anemouhagh schlägt mühelos die Brücke zwischen den Kontinenten und klingt, als hätten sich dieser Karawane die Dire Straits ebenso angeschlossen wie Bob Dylan.

Tidjit zeigt insbesondere zu Beginn, wie wichtig auch arabische Elemente für den Sound von Tinariwen sind, in Jayche Atarak und dem schwermütigen Nak Idnizdjam wird die Blues-Komponente besonders deutlich, an Jazz lässt insbesondere der glänzende Bass in Iket Adjen denken, bevor Tinde (Outro) die Platte mit einer überraschenden Frauenstimme und einem Rhythmus wie aus dem Karneval abschließt. Das vielleicht Erstaunlichste an Amatssou ist der Geist, den das Sextett mit seiner Musik auch unter widrigsten Umständen zu verbreiten vermag. Hört man ein Lied wie Kek Algham mit seiner virtuosen Gitarre, den lebendigen Percussions, dem innigen Chorgesang, und dem ungewöhnlichen Banjo im Hintergrund, spricht daraus nichts als Zusammenhalt und Zuversicht.

Das Video zur ersten Single Tenere Den.

Website von Tinariwen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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