Kel Tinariwen Albumkritik

Tinariwen – „Kel Tinariwen“

Künstler*in Tinariwen

Kel Tinariwen Review Kritik
„Kel Tinariwen“ war die erste Veröffentlichung des Touareg-Kollektivs.
Album Kel Tinariwen
Label Wedge
Erscheinungsjahr 2022
Bewertung Foto oben: (C) Wedge Records / Beats International

Musikkassetten wurde vor ein Jahren mal eine Renaissance vorhergesagt, weil Retro-Liebhaber wieder mit einem Walkman durch die Gegend liefen und auch einige Bands ihre neusten Veröffentlichungen wieder (oder teils sogar nur) im MC-Format veröffentlichten. De facto ist ihre Bedeutung als Tonträger aber kaum noch messbar. Ihr Marktanteil in Deutschland ist heute so gering, dass er in den Zahlen der Branche lediglich noch unter „Sonstige“ aufgeführt wird. Auch Vinyl-Singles oder Audio-DVDs- und -Blue-Rays zählen beispielsweise in diese Kategorie, die insgesamt noch auf etwa 6,6 Millionen Euro Jahresumsatz kommt. Rund 100.000 Musikkassetten werden demnach noch pro Jahr bei uns verkauft.

Das sah vor 30 Jahren noch ganz anders aus: Musikkassetten waren eine große Nummer, in jedem Plattenladen und auch in vielen Supermärkten zu finden. Fast 20 Millionen Mal gingen sie damals pro Jahr über den Tresen, der deutschen Musikindustrie brachten sie 1991 einen Umsatz von 524,5 Millionen Euro ein. Das ist beinahe des Hundertfache des heutigen Werts und mehr als das doppelt so viel wie aktuell hierzulande noch mit CD-Verkäufen erlöst wird.

Noch größer war ihre Bedeutung damals in Afrika. Schließlich war die Musikkassette im Vergleich zum Vinyl vergleichbar handlich und robust, zudem war sie spielend leicht zu kopieren (also im Zweifel extrem günstig) und konnte auch unterwegs gehört werden. „Ich denke, die Kassette spielte eine entscheidende Rolle als Kommunikationsmittel, ein Mittel, das uns sehr am Herzen lag“, sagt die Malerin, Dichterin und Liedermacherin Keltoum Sennhauser. Sie war damals die treibende Kraft hinter Kel Tinariwen, der ersten offiziellen Veröffentlichung des Touareg-Kollektivs, die damals – selbstverständlich – lediglich als Musikkassette herauskam und jetzt erstmals digital, als CD und Vinyl erscheint.

Vier der heutigen Mitglieder (Abdallah Ag Alhousseyni, Hassan Ag Touhami aka ‘Abin Abin’, Kedou Ag Ossad und Liya Ag Ablil aka ‘Diarra’) nahmen die acht Stücke im Sommer 1991 in Abidjan (Elfenbeinküste) auf. Die Lieder auf Kel Tinariwen zeigen viel von dem, was Tinariwen später auszeichnen sollte und ihnen mittlerweile sogar einen Grammy eingebracht hat. Nicht zuletzt gehört dazu die Fähigkeit, die Tradition und den Freiheitskampf ihres Volkes in Musik zu gießen. Auch dazu passte die Kassette als Medium perfekt, meint Keltoum Sennhauser, deren Mutter eine Touareg ist und die teils in der Region Kidal im Nordosten Malis aufwuchs, aus der auch Tinariwen stammen.

Nach Dürren, politischer Unterdrückung und Flucht diente die Verbreitung von Touareg-Musik auf Kassetten dazu, „das Bewusstsein zu schärfen und das Gewissen derjenigen zu wecken, die das Gefühl hatten, dass bereits alles verloren sei oder dass wir nicht die Mittel hätten, unseren Kampf zu gewinnen. Sie hat es der Welt der Touareg ermöglicht, ihr eigenes Bewusstsein zu entwickeln und voranzukommen. In unserem Milieu ist das Einzige, was uns dazu bringen kann, uns selbst in Frage zu stellen, die Musik. Denn wir hören sehr viel Musik, wir lieben Musik, wir lieben Poesie. Wir lesen nicht. Wir sind kein Volk, das liest. Die einzige Lektüre, die wir haben, über uns selbst und über die Außenwelt, ist also die Musik“, sagt Sennhauser.

Auf textlicher Ebene ist das kaum zu überprüfen, wenn man die Sprache der Touareg nicht beherrscht (was für den größten Teil ihres sehr internationalen Publikums gelten dürfte). Klanglich kann man aber auch in diesen sehr frühen Werken schon erkennen, wie wichtig Werte wie Zusammenhalt, organisches Wachsen und Intuition hier bereits sind. Der deutlichste Unterschied zu den späteren Platten von Tinariwen: Die Rhythmen stammen aus einem Drumcomputer, dazu kommen immer wieder ungewöhnliche Synthesizerklänge wie im Auftakt À L’Histoire (einem Duett, in dem der Frauen-Part auf Französisch gesungen wird) zum Einsatz.

In Awa Idjan War Infa Iman sorgt vor allem der Bass für die hypnotische Wirkung, Tenidagh Hegh Djeredjere zeigt, wie gekonnt die bei dieser Band so herausragend wichtige E-Gitarre hier bereits den Weg leitet durch all diese ungewöhnlichen Takte, Harmonien und Instrumente. Sendad Eghlalan hat bei aller Komplexität auch unverkennbar Punch und Vorwärtsdrang, Atahoura Techragh D’Azaka Nin wird auf vielen Ebenen verschachtelt wie ein mehrfacher Kanon, Arghane Manine schließt die Platte sehr funky und lebendig ab.

Als besonders typische Kostprobe für die Anfangszeit dieser Gruppe kann man vielleicht Matadjem Yinmexan betrachten. Das Lied ist heiter und ansteckend, zudem gibt es auch hier die aus heutiger Sicht seltsam anmutenden Elemente wie eine New-Wave-Orgel oder ein Panflöten-Solo, das ebenfalls aus einem altertümlichen Keyboard stammt. Beides wirkt hier aber nicht mehr wie ein Fremdkörper im Sound von Tinariwen, sondern wie eine Bereicherung. Auch sonst ist hier schon viel von ihrer Ästhetik (und Magie) zu erkennen.

Wer auf Entdeckungsreise im Tinariwen-Katalog gehen möchte, bekommt parallel übrigens auch weitere Möglichkeiten: Ihr drittes und viertes reguläres Album, also Aman Iman (2007) und Imidiwan: Companions (2009), erscheinen gerade neu auf Vinyl. Und Kel Tinariwen wird übrigens auch wieder als Musikkassette neu aufgelegt – als Reminiszenz an die Anfangszeit der Band.

Zu Arghane Manine gibt es jetzt auch ein Video.

Website von Tinariwen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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