Tinariwen Amatssou

Tinariwen – „The Radio Tisdas Sessions“

Künstler*in Tinariwen

Tinariwen The Radio Tisdas Sessions Review Kritik
„The Radio Tisdas Sessions“ war die erste offizielle Platte von Tinariwen.
Album The Radio Tisdas Sessions
Label Wedge
Erscheinungsjahr 2001
Bewertung

Wenn ein Debütalbum einen ähnlich legendären Status erreicht, wie es bei The Radio Tisdas Sessions der Fall war, ist es kein Wunder, wenn die Platte nach 20 Jahren neu aufeglegt wird, remastered und angereichert um einen zuvor unveröffentlichten Bonustrack, neue Fotos und aktuelle Liner Notes. Die Besonderheit bei diesem Werk ist (neben der einzigartigen Musik von Tinariwen) allerdings weiterhin, welch weiten Weg die Band gehen musste, um 2001 überhaupt ihr erstes echtes Album veröffentlichen zu können.

Tinariwen sind Tuareg. Das Nomadenvolk kämpfte schon zu Zeiten der Kolonialisierung mit schwierigen Lebensbedingungen. Als sich Mali, Niger, Algerien und Burkina Faso dann unabhängig machten und die Sahara-Region (die Heimat der Tuareg) unter sich aufteilten, wurde es noch brenzlicher. Die Tuareg kämpften gegen die jeweiligen nationalen Regierungen und strebten nach einer eigenen Nation. Ibrahim Ag Alhabib, der 1959 geborene Gründer von Tinariwen, ist der Sohn eines dieser Tuareg-Rebellen. Als Kind muss er mit ansehen, wie sein Vater hingerichtet wird, er lebt in Flüchtlingslagern und absolviert später selbst ein paramilitärisches Training, um für die Freiheit seines Volkes kämpfen zu können.

In einem Western im Kino sieht er, wie ein Cowboy eine Gitarre spielt. Er baut sich daraufhin sein eigenes Instrument und übt fleißig. 1979 musiziert er erstmals mit Musikern, die später ebenfalls zu Tinariwen gehören werden, auch wenn das Konzept einer „Band“ mit fester Besetzung für die Tuareg-Kultur fremd ist. Sie spielen auf Hochzeiten und Partys, sie singen über Heimweh, Sehnsucht und das Leben im Exil. 1985 nimmt die Gruppe einige Lieder amateurhaft auf, 1991 sind sie erstmals in einem echten Tonstudio, über kopierte Kassetten verbreitet sich ihr Sound in der Community. Schnell gelten sie als wichtige Sprachrohre für die Sache der Tuareg, auch selbst begreifen sie ihre Musik als Mittel des politischen Kampfes.

The Radio Tisdas Sessions ist ihre erste „echte“ Veröffentlichung, vertrieben von einer kommerziellen Plattenfirma. Die zehn Lieder nehmen sie im Dezember 1999 und Januar 2000 in der Nähe von Kidal im Norden von Mali auf, im Gebäude eines Radiosenders, dessen Programm man nur im Umkreis von 50 Kilometern empfangen kann. Ihren Strom bezieht die Radiostation komplett aus Solarmodulen – immer mal wieder fällt deshalb der Strom aus. Ein Generator kommt als Ersatz nicht infrage, weil seine Lautstärke bei den Aufnahmen stören würde. Also wird kurzerhand das Netz der Straßenbeleuchtung angezapft. Es gibt Gitarren, ein paar Percussions, Mikrofone und ein 16-spuriges Mischpult – sonst nichts.

„Der Ort war dunkel, ein bisschen wie eine Höhle, die Atmosphäre gedämpft. Alles war sehr ruhig. Im Hotel Krutel, in dem wir wohnten, gab es ein Kommen und Gehen: Momente der Poesie und des Nachdenkens. Gegen 17 Uhr begannen die Musiker einzutreffen; manchmal fehlte einer von ihnen, der in den Busch gegangen war. (…) Alles lief in einer ruhigen Atmosphäre ab, ohne Kopfzerbrechen oder allzu intensive Diskussionen“, erinnert sich der englische Gitarrist Justin Adams an die Aufnahmen. Er brachte ein paar E-Gitarren mit nach Afrika und ist einer der vielen westlichen Bewunderer des Sounds von Tinariwen (Robert Plant hat einmal gesagt: “I felt this was the music I’d been looking for all my life.“), die mittlerweile mit einem Grammy ausgezeichnet und Stammgäste auf internationalen Festivalbühnen sind.

Das ist erstaunlich, denn auch wenn man weiß, wie meisterlich dieses Kollektiv es vermag, die traditionellen Klänge seiner Kultur mit Rock- und insbesondere Blues-Elementen zu verbinden (auf den späteren Platten wird diese Melange noch deutlicher), fällt hier als Erstes auf, wie viel anders ist im Vergleich zu dem, was westliche Ohren gewohnt sind. Das zeigt ein schwebendes Lied wie Imidiwaren, das keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint, sondern sich einfach im Moment der Aufnahme materialisiert, aus den Elementen Erfahrung und Schmerz. Auch Nar Djenetbouba ruht enorm in sich selbst, scheint keine Dringlichkeit und keine Ablenkung zu kennen. Kedou Kedou hat einen sehr ungewöhnlichen Rhythmus, der dennoch eine große, repetitive Kraft entwickelt. Häufig merkt man, wie im vom lebendigen Bass geprägten Afours Afours, dass hier gar nicht so sehr Songs in unserem Verständnis im Mittelpunkt stehen, sondern Geschichten erzählt werden, die eben von Musik begleitet sind. „Für sie stehen die Texte an erster Stelle, eine Botschaft der Solidarität, poetisch, aber vor allem politisch“, sagt Justin Adams.

Es ist eine der größten Stärken von The Radio Tisdas Sessions, dass diese Andersartigkeit in keinem Moment kaschiert und auch nie überbetont werden soll, sondern einfach dokumentiert wird. „Wir wollten ihnen nicht unsere musikalischen Ideen aufzwingen, sondern sie bloß das spielen hören, was sie gewohnt waren“, betont Adams. Und Jean Paul Romann, der das Album als Toningenieur im Auftrag einer französischen Plattenfirma betreute, unterstreicht: „Mein Anliegen ist es, in Bezug auf das musikalische Projekt ehrlich zu sein. Die Musiker sollen sich wohlfühlen, nicht unter Druck gesetzt werden und nicht den westlichen Zeitdruck spüren. Das Wichtigste ist, bereit zu sein, wenn sie bereit sind, damit man, wenn schöne Dinge passieren, sie einfangen kann. Es sind die Menschen, die mich interessieren, ihre Persönlichkeit, die Art und Weise, wie sie sich der Musik nähern. Ich suche nach Emotionen, und es sind die Menschen, die sie transportieren.“

In dieser Authentizität liegt natürlich auch der Schlüssel für den universellen Appeal dieser Musik. Im Auftakt Le Chant Des Fauves klingt die E-Gitarre ganz spontan, auch der Rest mäandert in Richtung eines tiefen, emotionalen Kerns. Es wirkt, als würde dieses Lied erst in genau diesem Moment entstehen, und zugleich, als sei es schon immer da gewesen, durch viele Generationen und Zeitalter getragen worden. Als sehr typisches Element für den Sound erweist sich der Call-and-Response-Gesang, wobei die Antwort oft von einem Frauenchor kommt – Tinariwen haben dazu einfach Sängerinnen aus dem Umfeld des Radiosenders eingesetzt.

Zin Es Gourmeden ist spannend und am Ende erhebend, Mataraden Anexan wird das vielleicht beste Lied der Platte, vor allem dank seiner Melodie mit großem Reiz. In Bismillah erkennt man ein paar Figuren aus dem frühen Rock’N’Roll, obwohl sie auf einer akustischen Gitarre gespielt werden. In Tessalit werden mit der tiefen Saite der Gitarre beinahe die Ansätze eines Drones erzeugt, sodass der Song (den es als Bonustrack auch noch einmal in einer kurzen Liveversion gibt) gar keine Rhythmusinstrumente braucht.

Der zweite Bonustrack ist das bisher unveröffentlichte Ham Tinahghin Ane Yallah aus der Feder von Kedou Ag Ossad. Es ist für den Katalog von Tinariwen keine zwingende Ergänzung, aber es ist auch kein bisschen schlechter als die anderen Songs der Radio Tisdas Sessions. Das Stück zeigt damit in erster Linie, wie viel hochwertiges Material da noch vorhanden sein würde für die Zukunft (insgesamt wurden bei den Sessions 20 Songs aufgenommen) – kein Wunder bei rund 20 Jahren Vorlauf für dieses offizielle Debüt.

Eine Dokumentation über die Karriere von Tinariwen.

Website von Tinariwen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.