Tocotronic – „Die Unendlichkeit“

 

Künstler Tocotronic

Die Unendlichkeit Tocotronic Kritik Rezension
Auf „Die Unendlichkeit“ entdecken Tocotronic das Autobiographische.
Album Die Unendlichkeit
Label Vertigo
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

„Ein bisschen haben wir uns zuletzt sicherlich hinter Manifesten, Theorie-Referenzen und dem Formalismus versteckt“, sagt Dirk von Lowtzow. So erstaunlich dieses Eingeständnis von Danebenliegen aus dem Mond des Sängers von Tocotronic ist, so überraschend ist auch das morgen erscheinende zwölfte Album seiner Band. Statt um kryptische Referenzen geht es auf Die Unendlichkeit tatsächlich um: das echte Leben, sogar sein Eigenes, beinahe chronologisch.

Erstes augenfälliges Beispiel dafür ist Tapfer und grausam, das von den Gemeinheiten handelt, zu denen kleine Kinder gegenüber anderen Kindern fähig sind, und bei denen es um Rückblick nicht mal mehr so wichtig ist, ob man auf der Seite der Opfer oder der Täter stand – zu beiden Rollen würde auch das herrlich ramponierte Gitarrensolo von Rick McPhail passen.

Electric Guitar springt ein paar Jahre nach vorne in der eigenen Biographie und verspricht, beinahe als Gegenteil des Tocotronic-Prinzips früherer Jahre: „Ich erzähle dir alles / Und alles ist wahr“. Es geht um die Pubertät als das Aufeinandertreffen des Wunschs nach Rebellion (Suff, Sex und Fluchtgedanken) mit der alles umgebenden Spießigkeit. Die Electric Guitar ist natürlich die perfekte Metapher dafür. „Für mich war die Gitarre das erste Mittel der Subjektivierung und Inszenierung. Vieles von dem, was für Tocotronic später wichtig werden sollte, wurde da schon angelegt“, sagt Dirk von Lowtzow.

Hey Du wird alle Fans beglücken, die sich weiterhin Nach der verlorenen Zeit sehnen. Nicht nur im Sound, auch in der Attitüde erinnert das Lied an diese Ära: Lowtzow fühlt sich überlegen, wird von der Mehrheit seiner Mitmenschen aber als Freak betrachtet, und aus diesem Widerspruch erwächst die Energie des Songs. Im folgenden Ich lebe in einem wilden Wirbel, das ebenfalls ein zuletzt ungekannt hohes Tempo vorlegt, wird die erste große Liebe gefeiert. 1993 blickt auf das Jahr zurück, in dem der Sänger „aus der Schwarzwaldhölle“ nach Hamburg kam.

Das ist auch schon ein Vierteljahrhundert her, und vielleicht hat auch diese Jubiläumszahl dazu geführt, dass Tocotronic nicht mehr so stark auf Abgrenzung aus sind, sondern auch auf Miteinander, Versöhnung und Willkommen, sogar beim Blick auf die eigene Biographie. Die Frage, die auf Die Unendlichkeit immer wieder gestellt wird, lautet: Wer war ich früher, und wie viel davon stimmt noch mit meinem heutigen Ich überein? Am deutlichsten werden dieser größere Horizont und das Bewusstsein von Vergänglichkeit in Unwiederbringlich. Fast zwei Minuten lang bleibt das Lied instrumental, dann wird klar: Der Erzähler ist auf dem Weg zu einem Sterbenden, noch nicht wissend, dass er zu spät kommen wird, um sich noch verabschieden zu können.

Im letzten Drittel des Albums, das erneut von Moses Schneider produziert wurde, geht die Eindeutigkeit ein wenig zurück. Ausgerechnet Du hast mich gerettet ist wohl eine Liebeserklärung, und wenn das zutrifft, dann ist sie ebenso originell wie romantisch (und mit einem hübschen Orchesterarrangement versehen, geschrieben von Paul Gallister, der auch Produzent von Wanda ist). Das akustische Ich würd’s Dir sagen handelt vielleicht von Zweifel und Vertrauen und dem Ärgernis, dass sich eins davon stets artikulieren muss, während das andere so gerne stillschweigend bleibt.

Gerade, weil der Interpretationsspielraum hier größer ist und die Rätselhaftigkeit steigt, zeigen diese Songs allerdings eine weitere erfreuliche Neuigkeit bei Tocotronic: Die Musik ist wieder gleichrangig mit den Texten. Das verdeutlicht schon der Titelsong am Beginn des Albums, der in den ersten Takten (bevor der Gesang einsetzt, von dem man sich auch später auf der Platte gelegentlich etwas mehr Variationsreichtum wünschen würde) am spannendsten ist. Bis uns das Licht vertreibt hat den schönsten Refrain der Platte und ist mit etwas Fantasie sogar tanzbar. Mein Morgen ist eines von mehreren Stücken, die vom tollen Arrangement profitieren, das Friedrich Paravicini (Herbert Grönemeyer, Annett Louisan) beigesteuert hat, der auch etliche zusätzliche Instrumente auf Die Unendlichkeit gespielt hat.

Der Abschluss Alles, was ich immer wollte, war alles würde mit etwas Verzerrung und ein paar zusätzlichen BPM perfekt ins Frühwerk passen, bis hin zu einem dieser Slogans, für die Tocotronic mal so sehr geliebt wurden. Ich mache meinen Frieden mit Euch hatte eines dieser Frühwerke geheißen. Die Unendlichkeit deutet stark darauf hin, dass Tocotronic langsam aber sicher auch Frieden mit sich selbst machen können. Und das klingt ziemlich gut.

Wenigstens die Videos sind kryptisch geblieben, wie Die Unendlichkeit zeigt.

Im Frühjahr sind Tocotronic auf Tour.

06.03.2018      Bremen – Schlachthof
07.03.2018      Münster – Sputnikhalle
08.03.2018      Heidelberg – Halle 02
09.03.2018      Erlangen – E-Werk
11.03.2018      Erfurt – Stadtgarten
12.03.2018      Wiesbaden – Schlachthof
13.03.2018      Köln – E-Werk
14.03.2018      Hannover – Capitol
16.03.2018      Hamburg – Große Freiheit 36 (Zusatzshow)
17.03.2018      Hamburg – Große Freiheit 36 (Ausverkauft)
06.04.2018      Leipzig – Werk II
07.04.2018      Essen – Weststadthalle
08.04.2018      Stuttgart – Theaterhaus
11.04.2018      Freiburg – E-Werk
12.04.2018      München – Tonhalle
14.04.2018      Dresden – Alter Schlachthof
16.04.2018      Berlin – Columbiahalle (Ausverkauft)
17.04.2018      Berlin – Columbiahalle (Zusatzshow)

Website von Tocotronic.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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