Tocotronic auf der Bühne im Felsenkeller Leipzig

Tocotronic, Felsenkeller, Leipzig

Die eigene Historie spielt eine wichtige Rolle bei diesem Konzert von Tocotronic in Leipzig. Das ist natürlich kein Wunder bei einer Band, die gerade das 30. Jubiläum ihres Debütalbums feiert. Als erstmals ein Stück von dieser Platte erklingt, verweist Sänger Dirk von Lowtzow eigens noch einmal auf den Jahrestag, später kündigt er einen anderen Song mit dem Hinweis an, dass dieser genau 20 Jahre alt ist, noch später schreit er als Ankündigung eines weiteren Klassikers ein sehr leidenschaftliches „Neunzehnhundertneunundneunzig!“ in den ausverkauften Felsenkeller.

Beim Tourauftakt ist dieser unbeschwerte und durchaus auch selbstbewusste Umgang mit der eigenen Vergangenheit ein wichtiger Schlüssel dafür, dass der Abend in Leipzig so gelungen wird (oder sogar, wie es von Lowtzow schon nach einer guten Stunde beurteilt: „wahnsinnig geil“). Vielleicht spielt dabei eine Rolle, dass die Vergangenheit per definitionem immer länger wird, die Gegenwart hingegen stets flüchtig bleibt, während die Frage, wie lange es noch so etwas wie „Zukunft“ geben mag, ungewisser denn je erscheint – zumal in Zeiten der Polykrise, die auf dem neuen Album Golden Years so wunderbar besungen werden. Sich hier ein bisschen festzuhalten an dem, was war, was man gemeinsam erschaffen hat, was mit positiven Erinnerungen verbunden ist, erscheint da zumindest verlockend.

Fast alle hier haben reichlich Rockkonzert-Erfahrung mitgebracht, die meisten im Publikum offenkundig auch (wie es praktisch immer ist bei Bands, die in ihrer Karriere schon bei Album #14 angelangt sind) mehr Interesse an den Hits von früher als an den erstmals zu erlebenden neuen Stücken. Beim aktuellen Bleib am Leben als zweitem Stück des Abends gibt es viel zwar Schwung auf der Bühne, aber noch wenig Bewegung im Saal. Das ändert sich dann mit Digital ist besser (das ist der Song, der schon 30 Jahre auf dem Buckel hat), bei Aber hier leben, nein Danke (20 Jahre alt) gibt es dann sogar Hüpfen und Pogo.

Auch später im Konzert wiederholt sich dieser Effekt: Bei Golden Years wird im Refrain mitgesungen, beim direkt folgenden Let There Be Rock (Neunzehnhundertneunundneunzig!) dann jedes Wort. Der darauf folgende Nostalgie-Block bringt die Stimmung zum Höhepunkt: Bei Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen fliegt vor Begeisterung ein Bierbecher durch den Felsenkeller, als die beiden Damen vor mir die ersten Töne von Drüben auf dem Hügel erkennen, fallen sie sich dankbar in die Arme. Ähnliche Szenen spielen sich dann auch bei den Zugaben (This Boy Is Tocotronic, Hi Freaks, Die Welt kann mich nicht mehr verstehen, Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst und Explosion) ab.

Auch dieser Effekt ist natürlich nicht außergewöhnlich. Jede Band hat größtes Interesse, das neue Material auf die Bühne zu bringen, und damit die künstlerischen Aussagen, die für sie am meisten Gegenwärtigkeit und damit Relevanz haben. Es gilt, die Publikumsreaktion zu testen, vielleicht auch noch ein bisschen an Arrangements und Live-Routinen zu feilen, zumal beim ersten Konzert der Tour und in veränderter Besetzung (Rick McPhail wird durch Felix Gebhard wundervoll vertreten). Umgekehrt haben die meisten Fans bezahlt, um die Lieder zu hören, mit denen sie einst diese Band entdeckt haben, mit denen zahllose Glücksmomente und prägende Erlebnisse verbunden sind, zu denen eine Beziehung besteht, die sich mit den neuen Songs erst entwickeln muss.

Was besonders schön ist an diesem Abend im Felsenkeller: Tocotronic sind fein damit. Während man früher bei ihnen manchmal den Eindruck haben konnte, das jeweils aktuelle Album stehe in ihrer eigenen Gunst so hoch, dass Beiträge aus dem Frühwerk in der Setlist wie lästige Pflichterfüllung wirken konnten, genießt die Band hier, vor einem riesigen goldenen Vorhang als Bühnenhintergrund, beide Komponenten und kostet die Spannung und Interaktion aus, die sich mit der Live-Situation auch für sie bietet, ebenso wie die Möglichkeit, aus einem riesigen Oeuvre zu schöpfen.

Das zeigt sich in den Ansagen, in denen es Geschichten von Zahnspangen und Begegnungen im Nachthemd ebenso gibt wie Verweise auf Astrid Lindgren: Dirk von Lowtzow scheint am Anfang so einer Anmoderation oft selbst keinen Schimmer zu haben, wo seine Ausführungen am Ende herauskommen werden. So ähnlich kann man im Felsenkeller auch das gemeinsame Musizieren erleben: Die vier Männer auf der Bühne entdecken diese Lieder in jedem Moment offensichtlich wieder ein bisschen neu, lernen sie immer tiefer kennen. Das gilt natürlich für die erstmals gespielten Songs vom neuen Album, es gilt aber auch für die Klassiker. Eine etwas andere Frequenz im Feedback, ein leicht variiertes Drum-Fill-In, eine minimal abgewandelte Gesangsmelodie: Tocotronic spielen hier nicht einfach einen Katalog runter, sondern loten aus, was sie selbst in diesem Stücken noch zum Vorschein bringen können.

Ein exemplarischer Moment für diese Show ist der Crowdsurfer, der sich vor der Bühne entdecken lässt, als die Band mit Das Geschenk ein wunderbares Finale für das reguläre Set hinlegt. Natürlich sieht man auch anno 2025 noch regelmäßig Menschen, die sich auf den Händen des Publikums in den ersten Reihen tragen lassen. Auch im Felsenkeller, auch an diesem Abend (wie zuvor schon bei Der Seher). Aber man sieht nicht oft einen Crowdsurfer wie diesen, mit Halbglatze und etwas ungelenker Koordination, die befürchten lässt, dass er a) das zum ersten Mal ausprobiert, nachdem er sich zuvor jahrzehntelang nie getraut hatte, oder b) eigentlich Erfahrung in diesem Metier hat, aber den eigenen körperlichen Verfall so sehr unterschätzt hat, dass er nach dem Konzert womöglich zum Chiropraktiker muss. Beide Varianten wären indes ein Beleg dafür, was die Band in Leipzig nachgewiesen hat: Das Erlebnis von Livemusik, ein ausverkauftes Rockkonzert und der Sound von Tocotronic können euphorisieren, nach wie vor.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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