Künstler*in | Tocotronic |
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Album | Golden Years | |
Label | Epic | |
Erscheinungsjahr | 2025 | |
Bewertung | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Foto oben: Public Creations / Noel Richter |
Die Zeiten sind zu hart für Geschwurbel. Es braucht klare Ansagen, engagierten Einsatz für die eigenen Überzeugungen, notfalls auch das erneute Aussprechen von Grundsätzen, die man bereits für unausgesprochen etabliert hielt. Die Monate vor der Veröffentlichung von Golden Years deuteten darauf hin, dass Tocotronic das erkannt haben. Die Vorab-Songs wiesen eher in die Richtung von unmissverständlichen Statements als von obskurer Lyrik, die seit der Jahrtausendwende bei ihnen immer dominanter geworden war.
Diese neue Klarheit wäre, für mich und sicher viele andere Fans der ersten Stunde, ein gutes Zeichen. Der ursprüngliche Appeal von Tocotronic lag schließlich nicht nur im grandiosen Lärm glaubhafter und frischer Alternative-Musik mit deutschen Texten. Er lag auch daran, dass man sich als noch nicht ganz erwachsener Mensch in Deutschland bei dieser Band auch ideologisch aufgehoben fühlen konnte, mit ihrem Gestus von cooler Rebellion, von zumindest ästhetischer Auflehnung und von einem nicht nur zwischen den Zeilen ausgesprochenen „So, wie eure Welt ist, mag ich das nicht.“
Mit jeder Platte haben sich Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank (Rick McPhail hat noch an Golden Years mitgearbeitet, sich danach aber aus der Band verabschiedet, um eine Pause einzulegen) dann weiter von konkret zu abstrakt entwickelt. Von Musik, zu der man gut Bier trinken kann, zu Musik, zu der man gut Wein trinken kann. Von Ungestüm zu Nabelschau. Natürlich hat man als Band kaum eine andere Chance, wenn man 30 Jahre mit kreativem, ambitioniertem und glaubwürdigem Schaffen füllen will. Natürlich darf man als Fan trotzdem den Zeiten nachtrauern, in denen man noch Drüben auf dem Hügel in Freiburg zum Teil einer Jugendbewegung werden durfte.
Wer bei Golden Years nun in einer sentimental-nostalgischen Interpretation (auch das hätte der Albumtitel ja hergegeben) auf ein „Zurück zu den Wurzeln“ gehofft hatte, liegt falsch. Wer die David-Bowie-Referenz als Indiz für schillernden Futurismus gedeutet hat, ebenfalls. Viel eher scheint der Verweis auf ein Goldenes Zeitalter auf dem 14. Album dieser Band immer den Hinweis zu beinhalten, dass dieses womöglich vorbei, zumindest aber im höchsten Maße fragil ist. Der Titelsong setzt das mit einem ungeschönten und dann doch auch ziemlich dankbaren Blick auf das (Tournee-)Leben als Berufsmusiker um: „Den ganzen Abend hat’s geregnet / aber man muss dankbar sein / wenn man den Leuten noch begegnet / nicht nur als Klick auf Spotify“, heißt es in Golden Years.
Dennoch findet sich hier eindeutig wieder mehr Sturm und Drang (und Rock) als zuletzt, vielleicht dann doch als Reaktion auf die Verhältnisse. Mit der Erkenntnis, dass man sich nicht noch weiter ins Mysterium zurückziehen, sondern die eigene Position auch zum Stiften von Gemeinschaft und Zusammenhalt nutzen sollte, und eben doch auch wieder ein bisschen Widerstand und den guten alten Diskurs propagieren darf.
Der Tod ist nur ein Traum wird als Auftakt das Albums zwar geradezu schüchtern, aber schon vor dem ersten Wort ist da auch ein klein wenig Gitarrenfeedback zu hören. Denn sie wissen was sie tun adressiert wohl Wutbürger, Neue Rechte oder Milliardäre als Regierungs-Einflüsterer. Die Idee, sie mit „auf die Münder küssen“ zu bekämpfen, ist zwar Hippie-Quatsch, aber immerhin ist die Notwendigkeit von Protest erkannt, und auch die Lust auf ein bisschen Provokation steckt darin. Auch Vergiss die Finsternis ist angenehm kompakt und zugänglich, der erstaunlich lebendige Bass lässt sogar so etwas wie Groove aufkommen: „Vergiss die Finsternis / Finsternis ist Mist / dennoch ist sie alles, was ist“, lautet die Botschaft dazu. Bleib am Leben hat viel Schwung und sogar Unbedingtheit. Mit der etwas eigentümlichen Betonung des Songtitels verschafft Dirk von Lowtzow diesem kurzen Satz tatsächlich eine neue Konnotation, dieses „Bleib am Leben“ klingt nicht nur dramatisch wie „Überlebe bitte, halte bloß durch“, sondern auch lapidar wie in „Bleib mal kurz am Telefon.“ Als sei dieses ständige Weitermachen dann doch keine so große Aufgabe, auch in diesen Zeiten.
Erfreulich oft wird auf Golden Years eine zweite Stimme eingesetzt. Das ist auch deshalb wohltuend, weil es von Lowtzow etwas weniger selbstverliebt klingen lässt, wenn er sich dann manchmal doch wieder bevorzugt an seiner Rätselhaftigkeit ergötzt (wie in Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal, das im Sound immerhin herrlich rumpelt und stolpert und vielleicht eine weitere Bowie-Referenz ist, wenn man die Tode von Ziggy Stardust und David Robert Jones zusammenzählt). Ohnehin ist es höchst spannend, sich einmal die Frage zu stellen, welche Referenzen die Musik von Tocotronic anno 2025 ohne diese Stimme und ohne diese Texte heraufbeschwören würde. Man könnte denken an Pearl Jam ohne Pathos, Arcade Fire ohne Dramatik, Neil Young mit mehr Fokus, Dinosaur Jr mit mehr Eleganz. Keine schlechte Mischung. Zugleich zeigt ein Song wie Mein unfreiwillig asoziales Jahr mit dem irren Bratzen der Gitarre und seinem herrlich schrägen Ansatz: Außer Tocotronic ist keine andere Band vorstellbar, die so ein Lied fabrizieren könnte, nirgends auf der Welt.
Der Klang am Beginn von Niedrig könnte tatsächlich eine Maultrommel sein, auch rhythmisch wird das Stück enorm interessant. „Warum ist alles so niedrig / und wird immer niedriger?“, singt von Lowtzow, vielleicht als eine Metapher für das Altern, oder für die gesellschaftliche Desintegration, oder das Schwinden von Ratio und Anstand. Der Seher ist textlich mal blasiert, mal selbstironisch, musikalisch indes ein weiteres Beispiel dafür, wie gut die Band hier akustische und elektrische Elemente vereint. Wie ich mir selbst entkam erzählt von einer Begegnung, die einen emotionalen Tumult, eine kolossale Erschütterung auslöst. „An diesem Tag zerbarst die Zeit“, heißt es, es ist vielleicht ein Liebeslied, in jedem Fall ist es der beste Text der Platte. Der Album-Abschluss Jeden Tag ein neuer Song klingt fast wie ein Demo und dann tatsächlich auch sehr konkret, wenn auch nicht die Lage der Welt thematisiert wird, sondern das eigene künstlerische Schaffen.
Bye Bye Berlin zeigt die Stärken von Golden Years vielleicht am besten: Da sind Drive, Frische und auch ein paar Überraschungen wie das schön noisige (und schön kurze) Gitarrensolo. „Wohin wir ziehen, ist nicht bekannt“, lautet eine Zeile darin, und diese verdeutlicht: Die Band hat sich mit dieser Platte tatsächlich wieder Freiheit und Spannung erarbeitet. War man sich bis hierher ziemlich sicher, was man vom nächsten Tocotronic-Album erwarten könnte, ist das nun wieder eine völlig offene Frage. Das ist gut so, und offenbart zugleich eine weitere Facette des Albumtitels: Ein paar weitere Golden Years könnten für diese Band vielleicht durchaus noch drin sein.