Autor*in | Tommy Lee, Mick Mars, Vince Neil, Nikki Sixx, Neil Strauss | |
Titel | The Dirt. Die aberwitzige Geschichte von Mötley Crüe | |
Verlag | Heyne Hardcore | |
Erscheinungsjahr | 2001 | |
Bewertung | Foto oben: Vinylmeister bei Flickr |
Ich kenne kein einziges Lied von Mötley Crüe. Das ist, obwohl mir viele Menschen eine durchaus profunde Kenntnis der Rock-Historie und Pop-Kultur attestieren, vielleicht auch nicht ganz verwunderlich. Erstens bin ich kein Fan von Hair Metal, wie ihn das 1980 in Hollywood gegründete Quartett zelebriert hat. Zweitens war der Erfolg der Band, die weltweit rund 30 Millionen Platten verkauft hat, in Deutschland vergleichsweise überschaubar. Und drittens habe ich offenkundig nicht allzu viel verpasst. Die zeitgenössichen Kritiker*innen ließen oft kaum ein gutes Haar am Werk der Band. Ihr zweites Album fand The Village Voice „poor even by heavy metal standards“. Der Rolling Stone schrieb damals über eine der erfolgreichsten Platten von Mötley Crüe, sie sei schematisch, unoriginell und harmlos, letztlich „ein beunruhigend mildes Destillat von Kiss- und Aerosmith-Klischees„. Nicht einmal die Band selbst widerspricht. Vor lauter Party habe man weder genug Zeit noch einen ausreichend klaren Kopf gehabt, um im Studio auch noch herausragende Platten zu machen, räumten sie im Rückblick immer wieder ein.
Dafür habe ich schon sehr oft von diesem Buch gehört. The Dirt wurde verfasst von den Bandmitgliedern und Rolling Stone-Autor Neil Strauss, der auch an den Autobiografien von Marilyn Manson und Pornostar Jenna Jameson beteiligt war. Es gilt als ultimative Chronik eines Zeitalters, in dem Privatjets, Stadionkonzerte, über MTV ausgetragene Schlammschlachten mit anderen Bands sowie Unmengen von Drogen und Frauen das Image von Rockstars prägten, weil Mötley Crüe vielleicht diejenige Band war, die all diese Exzesse am meisten genoss und am heftigsten auslebte. Als The Dirt 2001 veröffentlicht wurde (2019 wurde die Biographie dann auch für Netflix verfilmt), schrieb das Q Magazine vom „unverzichtbarsten Rockbuch des Jahres, ach was, aller Zeiten!“ In der Tat ist dieses Werk – auch angesichts der mediokren Qualität ihrer Songs – mit einiger Wahrscheinlichkeit die größte kreative Hinterlassenschaft, die Mötley Crüe der Popkultur gegeben haben.
Die Lektüre ist entsprechend kurzweilig, gelegentlich auch witzig und manchmal erhellend. Es gibt reichlich zerstörte Hotelzimmer, es gibt mehr Festnahmen und Aufenthalte in Entzugskliniken als Alben in der Geschichte dieser Band, es gibt tragische Todesfälle und einen hohen Promi-Faktor (neben Musikgrößen wie Ozzy Osbourne, Bon Jovi oder Guns’N’Roses spielen auch Pamela Anderson, Heather Locklear sowie diverse Playmates sehr wichtige Rollen). Es gibt Scheidungen, Schulden und Schlägereien – und von all dem reichlich.
Der Titel des Buches erweist sich auch deshalb als überaus treffend. Das erste Kapitel erzählt aus der Phase, als Mötley Crüe in der Anfangszeit ihrer Karriere neun Monate lang gemeinsam ein Haus in Hollywood bewohnen. Sie putzen in dieser Zeit kein einziges Mal, als die Gesundheitsbehörde schließlich ihren Auszug erzwingt, gibt es allerlei Ungeziefer und etliche Stellen, die von diversen menschlichen Ausscheidungen gezeichnet sind. Auch, als sie längst viel mehr Geld, Erfolg und jeweils eigene Villen haben, bleiben Schlagzeuger Tommy Lee, Gitarrist Mick Mars, Sänger Vince Neil und Bassist Nikki Sixx veritable Dreckschweine in jeder Hinsicht. Nach einer Tour durch Japan werden sie von ihrem Manager Doc McGhee bezeichnet als „eine Horde unzivilisierter Wilder mit viel Geld, die auf niemanden Rücksicht nahmen, noch nicht einmal aufeinander“.
Zum großen Entertainment-Faktor von The Dirt tragen dabei nicht nur spektakuläre Anekdoten voller hedonistischem Überschwang bei (eine Party bei Produzent Roy Thomas Baker wird beispielsweise so geschildert: „Zwanzig Nackte aalten sich im Sprudelbad, man aß von den Körpern nackter Frauen – und alles andere, was Sie, ich oder Caligula sich hätten vorstellen können, gab es auch“), sondern auch die Tatsache, dass Neil Strauss das Buch grandios kompiliert hat. Dadurch, dass die Bandmitglieder abwechselnd zu Wort kommen, bleiben Eifersüchteleien, Konflikte und nicht zuletzt Widersprüche innerhalb dieser Band erhalten. Man kann auf diesen gut 450 Seiten somit durchaus erkennen, wie das Quartett aus dieser intensiven Reibung seine Energie und seine Einzigartigkeit bezogen hat. Eine wichtige Rolle nehmen auch Personen aus dem Umfeld ein, die gelegentlich als Erzähler*innen auftreten (wie ihr Tourmanager oder die Chefin ihrer Plattenfirma), ebenso weitere Kapitel, in denen Interviews zitiert werden, eine sehr originelle „Zahnrad-Theorie“ für das Musikgeschäft konzipiert wird oder Auszüge der Notizen abgedruckt werden, die sich Tommy Lee während seines Gefängnisaufenthalts 1998 gemacht hat.
Zugleich arbeitet The Dirt mit dieser Methode auch interessante Gemeinsamkeiten heraus, die den Bandmitgliedern selbst womöglich niemals klar waren. Dazu gehört bei allen eine Kindheit als Außenseiter, die dann oft auf die schiefe Bahn führte. Nikki Sixx schreibt hier exemplarisch über seine Erfahrungen in der Schule: „Die Kinder piesackten mich, und ich musste mich mit Gewalt zur Wehr setzen. Sie lachten über meine Frisur, mein Gesicht, meine Schuhe, meine Kleidung – nichts an mir war, wie es sein sollte. Ich kam mir vor wie ein Puzzle, bei dem ein Teil fehlte, und ich bekam nicht heraus, was für ein Teil das war oder wo ich es finden könnte.“
Parallelen werden auch darin erkennbar, dass alle vier Musiker über wenig formale Bildung verfügen, einen Hang zum Glauben an übernatürliche Phänomene und Verschwörungstheorien zeigen und nicht zuletzt auch als Erwachsene unfähig bleiben, Verantwortung zu übernehmen. Auch wegen dieser Eigenschaft bleiben sie hier als Charaktere und Persönlichkeiten letztlich blass und oberflächlich, mit wenigen Ausnahmen wie den Passagen, in denen Vince Neil vom Tod seiner Tochter berichtet, oder in denen Mick Mars über den Niedergang der Band in den 1990er Jahren reflektiert.
Immer wieder trifft man auf eine Mischung aus Hollywood-Therapiesprech und glorioser Selbstgerechtigkeit, in der immer die anderen Schuld sind, besonders gerne Bandkollegen, falsche Freunde und durchtriebene Weiber. Wenn Vince Neil gegen Ende von The Dirt erkennt, die Beliebtheit von Mötley Crüe habe „stets darauf beruht, dass wir uns hemmungslos allen möglichen Ausschweifungen hingaben und sofort alles absorbierten, was sich uns an Alkohol, Pillen, Mädchen und Ärger bot“, wirkt das deshalb fast wohltuend hellsichtig und ehrlich. „Wahrscheinlich könnte man es als Happy End bezeichnen, wenn wir jetzt sagten: ‚Ja, wir haben unsere Lektion gelernt, wir bereuen unser lasterhaftes Leben.‘ Aber das wäre Schwachsinn.“
Auch dieses Zitat belegt, dass in der für diese Band so wichtigen Formel von Sex, Drugs und Rock’N’Roll die Musik passenderweise an letzter Stelle steht. Letztlich geht es ihnen, so sehr insbesondere Mick Mars und Tommy Lee in diesen Buch ihre lebenslange Leidenschaft dafür betonen, erstaunlich wenig um ihre Kunst. Stattdessen geht es um Status und Egos, und eben um Sex und Drugs.
Das führt natürlich zur Frage, wie dieses Buch und die Geschichte dieser Band im Zeitalter von #MeToo und beispielsweise den aktuellen Vorwürfen gegen Rammstein zu bewerten ist. Die Antwort lautet: sehr kritisch. Es wird in The Dirt beispielsweise eine Mehrfach-Vergewaltigung geschildert, auch bei den unzähligen vermeintlich einvernehmlichen Situationen mit vermeintlich promisken und/oder unersättlichen Frauen sind neben dem Machtgefälle zwischen Rockstar und Groupie stets so viel Alkohol und andere Drogen im Spiel, dass die Frage nach Missbrauch sehr deutlich im Raum steht.
Auch das Frauenbild dieser Band, die im nächsten Jahr auf Stadiontour gehen will, ist alarmierend altmodisch. Frauen sind in der Welt von Mötley Crüe wahlweise Trophäen, Sexobjekte oder notwendiges Mittel zum Zweck, um die eigenen Vorstellungen eines erfüllten Lebens umzusetzen. Wenn eine Beziehung glücklich läuft, sind sie Göttinen und Erlöserinnen, sollen für Babyglück sorgen oder brav ihre Rolle in der Wunschvorstellung einer Bilderbuchfamilie einnehmen, die keiner dieser Musiker selbst in seiner Kindheit erleben durfte. Wenn die Beziehung kriselt oder in die Brüche geht, werden sie zu fiesen Schlampen und gierigen Hexen. Was sie fast nie sind, sind gleichberechtigte Menschen, die ein Recht darauf haben, respekiert zu werden, selbst Entscheidungen zu treffen und ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können.
Relativierend kann man allenfalls anführen, auch das macht The Dirt mehrfach deutlich, dass Mötley Crüe keineswegs Unikate waren, nicht mit ihrem Look, nicht mit ihrer Musik und auch nicht mit ihrem dekadenten Lifestyle. Sie sind Teil einer Szene, deren Rolle hier bei aller Konkurrenz und allen späteren Rivalitäten durchaus auch gewürdigt wird. Und sie sind Produkt eines Zeitgeistes, in dem nichts so wertvoll war wie Konsum und Individualismus. Es war eine andere Ära, auch wenn das längst nicht für jeden Exzess, der als dumme-Jungen-Streich verharmlost oder als Heldentat gefeiert wird, ohne zu berücksichtigen, was er vielleicht bei anderen Menschen angerichtet hat, eine Entschuldigung ist.
Bestes Zitat: „Wir hielten uns für die bösesten Geschöpfe auf Gottes Erdboden. Niemand trieb es so oft und wild wie wir, und niemand kam so unbehelligt mit diesem Benehmen davon. Wir hatten keinerlei Konkurrenz. Je kaputter wir waren, desto großartiger fanden uns die Leute, und desto mehr bekamen wir von dem, was uns noch kaputter machte. (…) Wir dachten, wir hätten schweinisches Verhalten zu einer Kunstform stilisiert.“