Künstler*in | Tristan Brusch | |
Album | Am Wahn | |
Label | Tautorat | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung |
Ein Mann steht in einem Türrahmen. Er sieht aus, als könne er mal wieder eine Dusche vertragen. Er blickt aus dem Raum heraus, fast könnte man meinen, er suche dort nach Hilfe. Zugleich ist etwas Finsteres in seinem Gesicht, so als stehe er kurz vor einem cholerischen Anfall, wenn er nicht sofort diese Wohnung verlässt. Der Grund für seine Wut könnte die Frau im Hintergrund des Bilds sein. Auch sie steht in einem Türrahmen, im Bademantel, mit einem vorwurfsvollen Blick, in dem die Frage „Was hast du getan?“ oder „Was wirst du bloß gleich wieder anstellen?“ zu stecken scheint. So ganz ist das aber nicht zu erkennen bei dem schummrigen Licht, das erahnen lässt, wie lange diese beiden Menschen schon nicht mehr die Wohnung verlassen haben, wohl auch in dem Wissen, dass da draußen auf sie beide nichts Gutes wartet.
So sieht das Cover von Am Wahn aus, dem übermorgen erscheinenden dritten Album von Tristan Brusch. Die Szene ist natürlich bezeichnend. Es geht auf dieser Platte um „eine eher schädliche Beziehung. Man denkt, man erlebt die Liebe, ist aber eigentlich nur im Wahn“, sagt der Künstler, der in Gelsenkirchen geboren wurde, in Tübingen aufgewachsen ist und heute in Berlin lebt.
Zu den größten Stärken der Platte gehört, dass dabei keine Vorwürfe gemacht und keine Schuldigen benannt werden. Tristan Brusch weiß: Es braucht in so einer Situation jemanden, der diesen Wahn erzeugt, und jemanden, der daran glaubt – und womöglich werden diese Rollen innerhalb einer toxisischen Beziehung auch noch ständig gewechselt. Der Auftakt Wahnsinn mich zu lieben zeigt das bereits. Er benennt zu einem großspurigen Sound mit Bläsern und Streichern die Ansprüche an die Partnerin (sie soll Engel, Hure und Vertraute sein, maximal schlank, immer geil und bereit, ihr ganzes Selbst zu opfern), wohl wissend, wie unrealistisch und unfassbar eitel diese angesichts der eigenen Unvollkommenheit sind und erst recht erkennend: „Erwartungen haben noch nie genutzt / selbst wenn sie sich erfüllen.“
Der zweite große Pluspunkt ist der Kontrast, den der 34-Jährige hier zwischen Form und Inhalt erschafft. Auch dafür ist der Opener bereits ein Beispiel: Opulente Sounds voller Wohlklang treffen auf eine bei Bedarf auch vulgäre Wortwahl und auf ein Leiden, das nicht nur aus der Trennung und der Tatsache erwächst, dass die Beziehung nun vorbei ist, sondern aus der bitteren Erkenntnis, dass die nun so schmerzlich vermisste Liebe vielleicht nie real war.
Man hört das am deutlichsten in Mirage, wo sich die vermeintlich auf ewig verbindende Seelenverwandtschaft bloß noch als Einbildung wie in einer Zaubershow erweist. „Was du gesehen hast, war nicht da / was du gefühlt hast, war nicht da“, singt Tristan Brusch und muss sich sogar eingestehen: „Unsere Liebe / eine Manege“. Auch diese Kombination aus großer Geste und großer Gekränktkeit ist typisch für Am Wahn, die verspielte Musik ist dabei Flitter, der höchst reizvoll von der Bitterkeit der Aussage ablenkt.
Seifenblasen platzen nie zeigt die Selbsttäuschung schon im Titel, das Arrangement könnte von Lee Hazlewood stammen, der Text findet sehr schöne und verstörende Bilder für diese alles verzehrende Beziehung („In einem Jahr Pandemie / haben wir uns / für immer geliebt“). Wieder eine Nacht suhlt sich in der quälenden Einsamkeit und der noch mehr quälenden Erinnerung, ein vermeintlich einfaches Konzept wie Glücklich („Ich wäre so gerne glücklich / weil ich dieses Leben nur glücklich ertrag“) kann einfach nicht mehr funktionieren. In Baggersee befindet sich der Ich-Erzähler im Krankenbett und erinnert sich an eine Sommernacht mit der Liebsten. Man hört die Unbeschwertheit des Moments und die Ahnung, dass vielleicht auch in diesem Glück schon ein Hauch von Ende lag.
Aufgenommen wurde der Nachfolger von Am Rest (2021) in den Berliner Hansa Studios mit Produzent Tim Tautorat, wie schon der Vorgänger, und Marcel Römer (Schlagzeug), Felix Weigt (Bass und Klavier), Damian Dalla Torre (Bassklarinette und Tenorsaxofon) und Ralph Heidel (Saxofon). „Ich hatte kein eigenes Studio mehr und habe mich deshalb bewusst zu einer anderen Strategie als beim letzten Album entschieden“, sagt Brusch. „Die Idee war, Tim einfach nur die iPhone-Demos zu übergeben und ihn den Rest machen zu lassen. Ich kann ein ziemlicher Kontrollfreak sein und verliere mich bisweilen in Details. Deshalb wollte ich die Kontrolle hier ganz bewusst abgeben.“
Gemeinsam haben sie Am Wahn eine erstaunlich große Klangpalette verpasst. Die Single Oh Lord wird launig im Sound und bitterböse im Text über die menschliche Selbstgerechtigkeit, das Ergebnis lässt an Element Of Crime denken, weil hier auch die Ruppigkeit der Stimme von Sven Regener anklingt. Monster bekommt viel Schwung und einen besonders großen Sound, zum Gefühl von Bedrohlichkeit trägt das schräge Saxofon darin ebenso bei wie der originelle Bass. Im Album-Abschluss Für Theo würde die Strophe mit dem etwas düsteren Gitarrenpicking zu Leonard Cohen passen, was auch für die Botschaft des Lieds zutrifft: Man sollte keine Kompromisse machen in diesem einen Leben, das man hat, auch nicht in seiner Loyalität zu denen, die einem nahe stehen.
Zwei Momente des Albums lassen dabei besonders aufhorchen. Kein Problem erweist sich als hoch romantisches Duett mit Annett Louisan. Die Orgel und der kitschige Gitarreneffekt verleihen dem Stück einen Eighties-Schmusesound à la Peter Cornelius – eine Referenz, mit der Tristan Brusch womöglich gar kein Problem hat: „Bei vielen grundsätzlich ähnlich gelagerten Songschreibern in Deutschland würde man niemals auf die Idee kommen, das Wort ‚Schlager‘ in den Mund zu nehmen. Bei mir schon – und ich weiß auch, woran das liegt. Mein Vortrag ist dramatischer, mich interessiert einfach die große Geste. Diese beinahe transzendente Wahrheit in guten, klassischen Schlagerstücken begeistert mich. In cooler Musik findet man das nicht unbedingt.“
Noch ein bisschen spektakulärer und eindeutig noch gewagter ist das, was er in Am Herz vorbei anstellt. Das Lied basiert auf You Missed My Heart von Mark Kozelek (Sun Kil Moon). Das ist heikel, weil dieser Autor mit gravierenden Sexismus- und Missbrauchs-Vorwürfen konfrontiert ist und in diesem Lied auch noch die Geschichte eines Doppelmords aus Eifersucht erzählt, an seiner Ex-Freundin und deren neuem Partner. Mit dem Wissen um die #MeToo-Komponente entwickelt das eine völlig neue, noch abgründigere Ebene, wozu auch die deutsche Fassung des Texts beiträgt. „Dieser Song hat mich so berührt, als ich ihn gehört habe, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn einmal zu übersetzten. Und als ich dann einen eigenen Text hatte, hab ich gedacht: Jetzt ist es auch ein bisschen meins“, erklärt Brusch, der entsprechend auch eigene Musik für Am Herz vorbei geschrieben hat – und es ist irre, was er aus dem Ausgangsmaterial macht, wie glaubhaft er in die Rolle des Gewalttäters schlüpft und wie viel Sensibilität für das Thema Femizid dennoch aus diesem Lied spricht.
Diese Ambivalenz hat bei ihm Prinzip, wie Tristan Brusch betont: „Wenn ich in meiner Musik etwas ganz Eindeutiges sage, schäme ich mich regelrecht, weil ich damit automatisch so viele Sichtweisen ausschließe. Ich finde es viel interessanter, nicht auf die Nase gebunden zu bekommen, wie man sich zu fühlen hat und also die Reaktion auf ein Lied in der Person selbst entstehen zu lassen.“ So funktionieren letztlich auch die Songs auf Am Wahn. Sie strotzen in ihren aufwendigen Arrangements vor Musikalität und glänzen immer wieder mit ausgeklügelten Sprachbildern, denen man anmerkt, wie viel Gedankenarbeit in sie hineingeflossen ist. Aber in diesen Songs steckt immer ein klarer Kern von purer Emotionalität, an der nichts bearbeitet oder künstlich ist.