Künstler | TV Smith | |
Album | Land Of The Overdose | |
Label | JKP | |
Erscheinungsjahr | 2018 | |
Bewertung |
Als Timothy Smith am 5. April 1956 das Licht der Welt erblickte, konnte von Punk noch niemand etwas ahnen. Im Zug fuhren die einfachen Leute noch in der 3. Klasse. Der erste Film mit Elvis Presley kam in die Kinos, Borussia Dortmund wurde zum ersten Mal Deutscher Meister im Fußball. Dennoch scheint irgendjemand bereits damals geahnt zu haben, dass es circa 20 Jahre später eine Bewegung und eine Musik namens „Punk“ geben sollte, und hat diesem neuen Erdenbürger alles mitgegeben, was man dazu brauchen sollte: Einen kritischen Geist, viel Wut im Bauch, modischen Freigeist (fast auf jedem Bild aus den Siebzigern kombiniert er Pins mit Ketten und Krawatten), einen subversiven Künstlernamen und vor allem eine Stimme, die nach Gefahr klingt.
„I remember when I had a voice“, heißt lustigerweise die erste Zeile auf seinem neuen Album Land Of The Overdose. In der Tat wirkt der Gesang des mittlerweile 62-Jährigen heute noch kaputter als zu den Zeiten am Beginn seiner Karriere, als er noch Teil von The Adverts war, einer der prägenden Bands der Londoner Punk-Szene. Was sich seitdem nicht verändert hat, ist die Attitüde, wie das dazugehörige Lied No Control beweist. Die Zeile „You can have the illusion of importance / but you have no control“, schmeißt uns TV Smith da an den Kopf und zeigt damit: Was er nach wie vor nicht akzeptieren kann, ist die Einschränkung seiner Autonomie und Mitsprache. Er glaubt an die Macht von Zusammenhalt, Aufbegehren und Revolte, heute so sehr wie vor 40 Jahren.
Natürlich passt diese Einstellung bestens zu einem Mann, den man gerne als rastlosen Aktivisten begreifen darf. 2017 spielte er über 130 Konzerte, Land Of The Overdose ist bereits sein 17. Soloalbum. Sein Engagement passt auch in eine Zeit, in der es nötiger denn je erscheint, mit Trump, Brexit und einer Tory-Regierung, die Jugend in England nur zu akzeptieren scheint, wenn sie stromlinienförmig und bestenfalls auch noch wohlhabend ist. An Themen mangelt es also nicht. „Wo ich hinkomme, treffe ich auf Menschen, die ganz anders ticken als die, die aktuell die politische Meinung bestimmen“, bringt der 62-Jährige seine Erfahrungen auf den Punkt. Mit File It Under Not My Problem nimmt TV Smith den Zynismus der Welt ins Visier und wird dabei auf fast perfide Weise eingängig. Keys To The World wird eine Generalabrechnung mit Religion, Steuersystem, Krieg und Hunger und beweist dabei viel Biss.
In We Stand Alone findet sich wieder der Aufruf, die Komfortzone zu verlassen, aber diesmal klingen ein paar Zweifel daran an, ob die Mehrheit der Menschen dazu bereit ist. Der Titelsong Land Of The Overdose beklagt, wie leicht wir uns betäuben, ablenken und Sand in die Augen streuen lassen. Never Again Until The Next Time behandelt unsere Vorliebe für Halbherzigkeit, womöglich bezieht sich TV Smith darin sogar selbst ein, denn das Lied hat eine erstaunliche Leichtigkeit. Social Media steht in Green Zone am Pranger: „Spy on what I buy / how I vote / what I wear / put me in your algorithm / I don’t care / I know you’re watching me / I’m watching you too / and what did you do?”, lautet darin die Analyse, dazu spielt der Künstler gekonnt mit dem Rhythmus des Lieds und legt seine Aggressivität vor allem in die Phrasierung.
Das fällt an Land Of The Overdose ohnehin auf: Im Sound ist das Album ein gutes Stück von den klassischen Punk-Koordinaten entfernt. In der Ästhetik bewegen wir uns hier deutlich näher an Billy Bragg als beispielsweise an den Ramones. Die E-Gitarre muss, wie etwa in Sunny Side Up, im Hintergrund bleiben, wenn sie überhaupt erklingt. Last Lost Sheep, das die Platte abschließt, ist ebenfalls typisch für den Sound: Es klingt wie ein Demo, aus dem man mit einer Band in einer Garage, in der man ordentlich lärmen darf, eine stürmische Punkhymne machen könnte.
Der Grund für diesen oft eher zahmen Sound ist die Entstehungsweise: TV Smith hat Land Of The Overdose komplett alleine eingspielt. Es gibt oft elektronische Beats und akustische Gitarren, gelegentlich erklingt auch ein Synthesizer. Beschaulich wird es natürlich trotzdem nie. Satellites beispielsweise setzt auf gewagte Taktwechsel, No Hope Street zeigt, dass TV Smith auch in diesem Format noch plakativ sein kann, Written Out überrascht mit theatralischen Pauken und auch etwas Pathos im Text: „In the search for truth / I sacrificed my youth.“
Komplett als One-Man-Show sollte man das Werk dennoch nicht begreifen, denn erneut haben Die Toten Hosen sich für TV Smith als wertvolle Partner erwiesen. Einst hatten sie schon Gary Gilmore’s Eyes von den Adverts auf Learning English gecovert, zu Beginn dieses Jahrtausends hatten sie mit Useless – The Very Best Of TV Smith sogar ein ganzes Studioalbum zusammen mit ihm aufgenommen. Zudem spielt Hosen-Drummer Vom Ritchie auch gelegentlich das Schlagzeug bei seinen Liveauftritten. Jetzt haben sie die neue Platte auf ihrem Label veröffentlicht. „Dass TV Smith seit 1977 zu den besten Textern der Musikszene gehört, ist für uns schon länger eine Tatsache. In der aktuellen politischen Lage sind seine Lieder noch wichtiger geworden“, sagt Tote-Hosen-Sänger Campino. „Wir schätzen an ihm, dass er unablässig für soziale Gerechtigkeit kämpft und sich nicht unterkriegen lässt. Als wir seine neuen Songs hörten, war uns sofort klar, dass Land Of The Overdose bei unserer Plattenfirma erscheinen musste.“