Von den „halbgaren Versuchen, sich in die Moderne hineinzuzwängen“ habe ich vor zwei Jahren geschrieben, als ich gerade zurück kam vom Medientreffpunkt Mitteldeutschland in Leipzig. Damals ging es um das Leistungsschutzrecht. Zwei Jahre später sind die Medienkonzerne diesem Blödsinns-Ziel dank beharrlicher Lobbyarbeit deutlich näher gekommen. Diskutiert wird trotzdem noch, Sven Regener sei Dank. Diesmal geht es ums Urheberrecht an sich.
Die Debatte spannt einen erstaunlichen Bogen. Es geht um Details wie die Nutzung von Schulbüchern im Unterricht oder die Frage, wer bei einer Kulturflatrate auswerten soll, welche Angebote überhaupt genutzt werden, bis hin zur Forderung nach einer weltweiten Internetverfassung oder dem Heraufbeschwören eines „Kulturkampfs“ ums Netz. Und es ist erstaunlich, wie renitent sich die etablierte Medienindustrie weiterhin weigert, die Realität anzuerkennen.
„Weltfremd“, sagt eine junge Dame hinter mir, als sich die Podiumsdiskussion zum Thema Der Konflikt ums Urheberrecht. Freiheit, Eigentum, Vielfalt dem Ende nähert. „Wo leben die denn?“, fragt sich ihr Nachbar wenig später. Ein paar Mal müssen beide kichern, und es wundert, dass auch bei den anderen Zuhörern im Saal offensichtlich die Höflichkeit regiert. Denn die Argumente von Plattenfirmen, Verlagen oder Filmstudios sind nach wie vor hanebüchen.
These 1: Wer alles kostenlos herunterlädt, kauft nichts mehr. Falsch! Moderatorin Vera Linß (Deutschlandradio) zählt gleich eine ganze Reihe von Studien auf, die das widerlegen. Filesharer gehen besonders oft ins Kino, in Norwegen wächst die Musikindustrie wieder – nicht trotz, sondern wegen eines besonders liberalen Umgangs mit der Thematik.
Dem hält Holger Enßlin aus dem Vorstand der Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen (GVU) einen Schaden von mehr als 20 Milliarden Euro im Jahr 2010 in Deutschland entgegen. Doch solche Größenordnungen zweifelt inzwischen selbst die US-Regierung an. Die Entwicklung habe sich in den vergangenen vier bis fünf Jahren „dramatisiert“, jetzt finde eine Konsolidierung auf hohem Niveau statt, mahnt Enßlin.
Doch wie solche virtuellen Beträge gemessen werden, ist schleierhaft. Man kann diese widersprüchlichen Aussagen ganz nüchtern betrachten wie Jan Engelmann, der für Wikimedia auf dem Podium sitzt. „Der Urheberrechtsdebatte mangelt es an empirischem Material“, sagt er, „wir wissen beispielsweise nicht, wie es mit der Zahlungsbereitschaft oder dem Unrechtsbewusstsein aussieht.“ Man kann auch auf den gesunden Menschenverstand setzen: Dass Filesharer alle Produkte auch kaufen würden, die sie sich im Netz kostenlos beschaffen, ist höchst unrealistisch.
These 2: Alle Urheber wollen Geld verdienen. Falsch! Permanent ist in der Debatte, nicht nur in Leipzig, die Rede von Intellektuellen, Produzenten, Kreativen. Doch keiner hat im Blick, dass es auch Kreative gibt, die in erster Linie ein Werk kreieren wollen, unabhängig von der Vergütung. Ein Bildhauer, der eine Skulptur schafft – weil es ihm ein Bedürfnis ist. Ein Musiker, der ein Lied schreibt – weil ihm eine Melodie nicht mehr aus dem Kopf geht. Ein Journalist, der einen Text verfasst – weil er die Ergebnisse seiner Recherche oder seine Meinung an die Öffentlichkeit bringen will. Ein Wissenschaftler, der eine Studie veröffentlicht – weil er sich Lob und Anerkennung erhofft.
Natürlich brauchen sie alle die Rahmenbedingungen, um überhaupt geistiges Eigentum schaffen zu können. Aber all diese Menschen zu „Urhebern“ zu machen, ist eine unzulässige und unnötige Justifizierung. Die Debatte wird dadurch auf einen finanziellen Aspekt verengt. „Es gibt nicht nur einen Typus Urheber“, stellt Engelmann endlich klar – er bleibt der einzige auf dem Podium, dessen Horizont so weit reicht.
Nicht zuletzt muss in diesem Zusammenhang gesagt werden: Die Freiheit der Kunst, auch die Pressefreiheit, meint natürlich nicht die Freiheit, dass sich jeder einfach das geistige Eigentum eines anderen aneignen darf. Gemeint ist aber auch nicht, dass geistige Eigentum automatisch kostenpflichtig ist oder dass die Freiheit unmittelbar an eine Garantie auf Geldverdienen geknüpft ist. Im Gegenteil: Beispielsweise die Pressefreiheit soll es ermöglichen, dass jeder – als Produzent und Konsument von Medien – an der öffentlichen Debatte teilnehmen kann. Angestrebt wird also eine möglichst große Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit wird umso größer, je einfacher (also auch: günstiger) diese Medien (also auch: Kopien von ihnen) verfügbar sind. In letzter Konsequenz bedeutet das: Kostenlose Inhalte, die jeder ungehindert verbreiten kann, sind der beste Nährboden für eine lebendige, informierte, pluralistische Öffentlichkeit.
These 3: Die Urheber brauchen Distributoren, um Geld zu verdienen. Falsch! Durch Piraterie würden in erster Linie die Kreativen getroffen, die Geld verdienen wollen, sagt Enßlin. Stimmt. „Dazu brauchen sie nach wie vor Vertriebswege wie Plattenfirmen, Verlage oder Kinoverleih“, ergänzt er. Stimmt nicht.
Gerade diese Behauptung führt zum Kern der Debatte: Das Internet macht nicht das Urheberrecht überflüssig, sondern die Distributoren. Jeder Kreative kann sein geistiges Eigentum heutzutage selbst vermarkten – weltweit, vom eigenen Schreibtisch aus und vor allem, ohne Zwischenhändlern ein saftiges Stück vom Kuchen abgeben zu müssen. Wer Videos bei YouTube hochlädt, kann sie von Google vermarkten lassen, Blogger können auf AdSense setzen oder auf Bezahlmodelle wie Flattr. Natürlich ist es schwierig, aus solchen Erträgen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber es zeigt, dass das Netz die Macht der Urheber stärkt.
Plattenfirmen oder Verlage, die sich nun vorgeblich für die Urheber in die Bresche werfen, haben jahrzehntelang prächtig an den Leistungen der Künstler verdient (und zudem immer wieder versucht, deren Anteil am Erlös so gering wie möglich zu halten). Sie kämpfen auch jetzt nicht für die Kreativen, sondern um ihre eigene Existenz.
These 4: Ohne die Finanzkraft großer Konzerne entsteht kein neues geistiges Eigentum. Falsch! „Wir müssen Geld verdienen, nur dann können wir in neue Inhalte investieren“, erklärt Michael Müller, bei ProSiebenSat.1 für den Bereich Distribution zuständig. Weiter gedacht bedeutet das: Wenn die Distributoren nicht mehr zahlen, entstehen keine neuen Inhalte – die Medienkonzerne werden zum Motor der Produktion geistigen Eigentums.
Das Gegenteil ist der Fall: Zum einen gibt es etliche Kreative, die auch ohne finanzielle Anreize produzieren (siehe These 2). Zum anderen waren und sind die Medienkonzerne bei weitem nicht nur Förderer, sondern in mindestens ebenso großem Maße auch Verhinderer von Kultur. Jahrzehntelang haben Buchverlage die Manuskripte abgelehnt, die sie für unverkäuflich hielten. Plattenfirmen haben Demobänder weggeschmissen, denen sie keine Marktchancen einräumten. Bei Produktionsfirmen landeten Drehbücher im Müll, die unrentabel erschienen. All diese Werke sind niemals veröffentlich worden. Die Distributoren haben daraus eine riesige Müllhalde der Kreativität gemacht, weil sie in diesen Werken für sich selbst keine Gewinnchancen sahen. Das macht ziemlich gut deutlich, wie weit es her ist, mit dem Kulturförderungsbewusstsein der Rechte-Industrie.
Im Netz können all diese Werke das Licht der Welt erblicken. Jeder Urheber kann sie selbst veröffentlichen und verbreiten. Mehr noch: Durch die Digitalisierung sind die Produktionsmittel deutlich günstiger geworden, auch für die Vermarktung gibt es ganz neue, zum Teil kostenlose Werkzeuge. Kein Künstler braucht mehr Unternehmen, die behaupten, nur sie könnten ihm den erfolgreichen Zugang zum Markt gewähren.
Lange, bevor das Patentrecht erfunden wurde, gab es Erfindungen und Innovationen. Genauso würde auch ohne Urheberrechte weiter geistiges Eigentum produziert. Lediglich die Distributoren verlören dann die Macht, Gatekeeper für dessen Entstehung und Verbreitung zu sein.
These 5: Die User und die Politik müssen sich bewegen, nicht die Rechte-Industrie. Falsch! Viola Bensinger, die als Anwältin unter anderem große Medienkonzerne berät, macht auf dem Podium in Leipzig einen zunächst einleuchtend klingenden Vergleich. Es sei unsinnig, den Anbietern von Musik oder Filmen in Deutschland ein fehlendes legales Vertriebsmodell vorzuwerfen und damit Piraterie zu rechtfertigen. Übertragen auf die Analog-Welt würde dies bedeuten: „Du willst dein Auto nicht verkaufen, dann nehme ich es mir eben einfach so.“ Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied: In der digitalen Welt geht es nicht um einmalig verfügbare Güter, sondern es geht um identische Kopien, bei denen das Original voll und ganz erhalten bleibt.
Dass es also um ein ganz anderes Verhältnis geht, und dass die Digitalisierung hier längst Fakten geschaffen hat, die sich nicht mehr werden auslöschen lassen, ignoriert ein solcher Ansatz. „Man kann den Nutzern nicht vorwerfen, dass keine Geschäftsmodelle entwickelt wurden“, dreht Engelmann den Spieß um und fordert: Die Rechte-Industrie sollte nicht Kopien hinterherjagen, sondern ihre Kreativität lieber in die Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle stecken.
Mehr noch: Das bisherige Treiben von Plattenfirmen, Filmstudios & Co. war kontraproduktiv, meint er: „Durch den Fokus auf die Rechtedurchsetzung wurde womöglich eine ganze Generation von Kunden verprellt.“ Da widersprechen nicht einmal die Piraterie-Gegner. Die Abmahnindustrie (pro Jahr gibt es 3,6 Millionen Auskunftsersuche bei Providern wegen möglicher Urheberrechtsverletzungen) sei ein „fragwürdiges Geschäftsmodell“, erkennt Bensinger an. Aber dieses Vorgehen zeige eben auch die Hilflosigkeit der Anbieter.
These 6: Das Urheberrecht hat jahrzehntelang funktioniert. Es muss nicht reformiert werden. Falsch! Eine ganz außergewöhnliche Vielfalt der Angebote habe das System des Urheberrechts in Deutschland hervorgebracht, schwärmt Michael Müller. Und er warnt sogleich vor Änderungen: „Da können wir stolz drauf sein und da sollten wir vorsichtig mit umgehen.“ Auch Viola Bensinger sieht beim Urheberrecht keinen grundsätzlichen Reformbedarf, sondern lediglich die Notwendigkeit „flankierende Rechte“ der digitalen Welt anzupassen.
Beides stimmt nicht (zumal man Müller entgegen halten möchte: Die Vielfalt ist nicht dem Urheberrecht zu verdanken, sondern den Urhebern) und unterschätzt die Wucht des digitalen Wandels. Engelmann macht das mit einem banalen Beispiel deutlich: „Wir sind alle potenzielle Urheber. Schon mit einem Handyfoto, das wir bei Facebook einstellen, können wir dazu werden“, erklärt er und führt damit die Dimension des Problems vor Augen: „Früher war das Urheberrecht nur für Kulturschaffende relevant, heute regelt es Alltagshandlungen.“ Auch Antje Karin Pieper, Medienanwältin und Sprecherin des Berliner Initiativkreises öffentlich-rechtlicher Rundfunk, lässt daran keinen Zweifel. „Das Urheberrecht muss auf jeden Fall geändert werden. Das Prinzip, dass jede Nutzung einzeln abgegolten wird, wird nicht mehr funktionieren“, sagt sie. Es gelte, Grundrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit, Datenschutz, Persönlichkeitsrechte oder geistiges Eigentum im digitalen Zeitalter in Einklang zu bringen. Genau so ist es.
Hey Krafti, darf ich dir eine Parteimitgliedschaft empfehlen? 😉