Kurz vor 22 Uhr darf man im Ersten durchaus schon ein bisschen Masochismus praktizieren. Das jedenfalls deutet Günther Jauch an diesem Abend schon in seiner Anmoderation an: «Sie und ich stehen am Pranger.» Es geht unter dem Titel Wie stoppen wir den Wegwerf-Wahnsinn? um die Verschwendung von Lebensmitteln.
Wie viel jeder Deutsche pro Jahr unnötigerweise entsorgt, führt Jauch gleich zu Beginn vor Augen. Er hat einen entsprechend großen Berg von Lebensmitteln ins Studio gekarrt, wie er das früher bei Stern TV auch gerne zu Illustrationszwecken gemacht hat. Später dürfen die Zuschauer in einer Spontanumfrage noch per Knopfdruck kundtun, ob sie Brot, Obst oder Gemüse auch noch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums essen – und man muss unweigerlich an den Publikumsjoker bei Wer wird Millionär? denken. Die Anleihen bei seinen anderen Shows zeigen: Jauch fühlt sich wohl mit dem Thema. Hier ist er zuhause.
«Wo ist jetzt die Verschwörung?», möchte er wissen, als auch nach einer Dreiviertelstunde noch nicht klar ist, wer nun eigentlich warum wie viel wegwirft und ob man zuerst bei Bauern, Handel oder Verbrauchern ansetzen sollte. Warum die EU vorschreiben muss, wie rot ein Apfel sein darf, will er von seinen Gästen auch erklärt bekommen. Und den Zusammenhang zwischen unserem Überfluss und den hungernden Kindern in Afrika.
Jauch imitiert, wie immer, die Stimme des Zuschauers vor dem Fernseher, des Manns auf der Straße – in seiner Neugier, aber auch in seiner Bequemlichkeit («Ich esse zunächst mal, was mir schmeckt.») und in seiner Sehnsucht nach Versöhnung (am Ende stoßen alle Gäste in bester Doppelpass-Manier und zum Trinkspruch «Wenn, dann vergiften wir uns gemeinsam» mit Bier an, das seit fünf Jahren abgelaufen ist). Diese Masche, die bei harten politischen Themen schon einmal albern wirkt, funktioniert hier bestens. Auch, weil der Moderator immer wieder darauf hinweist, dass die Schuld diesmal nicht bei «denen da oben» zu suchen ist, sondern wir alle fleißig mitmachen beim Wegwerf-Wahnsinn.
Allerdings ist Jauch nicht nur an Selbstkasteiung und Einstecken gelegen. Er teilt auch aus. Von Ministerin Ilse Aigner (CSU) will er schon in der ersten Frage frech wissen, ob sie Lebensmittel aus der Mülltonne essen würde, wenn sie noch genießbar aussehen. Fernsehköchin Sarah Wiener konfrontiert er mit der Tatsache, dass bei den von ihr angebotenen Buffets auch oft jede Menge übrig bleibt und dann weggeworfen wird. Und Stefan Genth, der stellvertretend für die deutschen Supermärkte in der Talkrunde sitzt, wirft er vor, dass es für den Handel ja ganz praktisch ist, wenn man ein halbvolles Marmeladeglas wegwirft – weil man dann ja ein neues kauft.
Günther Jauch gibt damit die überzeugendste Figur in der ganzen Runde ab. Handelssprecher Genth gelingt es in keinem Moment, glaubwürdig zu wirken. Er appelliert einerseits an den gesunden Menschenverstand, andererseits wiederholt er ständig, dass kein Markt ein Interesse daran haben könne, Lebensmittel wegzuwerfen. «Die Händler müssen die Ware ja bezahlen.» Dass in Wirklichkeit nicht der Händler dafür zahlt, sondern der Verbraucher, das sagt Genth natürlich nicht – aber der gesunde Menschenverstand.
Buchautorin Hanna Poddig, die sich seit Jahren ausschließlich von dem ernährt, was sie in Mülltonnen von Supermärkten findet, ist auf Dauer arg anstrengend in ihrem Rund-um-die-Uhr-Aktionismus. Filmemacher Valentin Thurn, der von Mülltauchern wie ihr zur Dokumentation Taste The Waste inspiriert wurde, muss sich mehrfach falsche oder kaum zu belegende Zahlen vorwerfen lassen, ohne diese Kritik überzeugend widerlegen zu können.
Und Ilse Aigner, die Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz? Die vergisst mal wieder den letzten Teil ihres Titels und gibt stattdessen, wie stets, die Schutzgöttin der deutschen Bauern. Dass ein Landwirt die Hälfte der Kartoffelernte gleich auf dem Feld liegen lässt, weil er zu krumme, zu große oder zu kleine Kartoffeln ohnehin nicht verkauft bekommt, will sie nicht glauben, obwohl der Einspieler eben dies gerade gezeigt hat.
Den Vorwurf, die Politik habe das Thema Lebensmittelverschwendung verschlafen, kontert sie mit sagenhaften Argumenten. Bessere Kennzeichnung von Haltbarkeitsdaten? Kann man mal drüber nachdenken. Genaue Zahlen zum Thema? Eine Studie wurde gerade in Auftrag gegeben. Aufklärung für die Verbraucher? Ist natürlich wichtig, und deshalb sei es «gut, dass wir diese Sendung haben». Wie füllt diese Frau eigentlich ihr Amt aus, wenn sie gerade nicht im Fernsehstudio sitzt, will man sich da fragen, und auch Günther Jauch fühlt sich von so viel Dreistigkeit prompt ein bisschen provoziert. «Wir können ja nicht mit jeder Sendung die Welt retten», entgegnet er.
Ansonsten hat die CSU-Frau noch ein paar Küchentipps mitgebracht. Brot kann man wunderbar einfrieren und dann wieder aufbacken, lernen wir. Die Äpfel aus ihrem Garten sehen nicht so lecker aus wie die im Supermarkt. Und: «Man kann Tomatensaft pürieren.» Dieser Auftritt ist eindeutig für die Tonne.
Sarah Wiener, von der man eher derlei Praktisches erwartet hätte, treibt die Debatte derweil in Richtung Grundsatzdiskussion. Profitgier, Massentierhaltung, Globalisierung – das sind durchaus wichtige Stichworte bei diesem Thema, aber für mehr als Stichworte ist in der Runde dann leider keine Zeit mehr. Immerhin bringt Wiener das Dilemma bei der Lebensmittelverschwendung am besten auf den Punkt. «Handel und Verbraucher sind Verführer und Verführte.» Wenn man das so hübsch formuliert, klingt das schlechte Gewissen doch gleich nur noch halb so schlimm.
Bestes Zitat: «Ich fühle mich verarscht.» (Filmemacher Valentin Thurn kann nicht nachvollziehen, warum ein Mindesthaltbarkeitsdatum angegeben wird, obwohl man die Produkte teilweise noch Monate danach ohne Bedenken essen kann.)
Quelle:
News –
Medien News –
«Günther Jauch» – Verführt von Sarah Wiener
Diesen Artikel gibt es auch bei news.de – inklusive einer Fotostrecke zu Günther Jauch, ein paar guten Tipps, was man mit abgelaufenen Lebensmitteln noch anstellen kann und einem Videokommentar zur Verschwendung von Lebensmitteln.