Viagra Boys – „Welfare Jazz“

Künstler Viagra Boys

Viagra Boys Welfare Jazz Review Kritik
Zwischen Ernst und schwarzem Humor pendeln die Viagra Boys aus „Welfare Jazz“.
Album Welfare Jazz
Label Year 0001
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Das kennt man doch: Ein One-Shot-Video, in dem ein junger Mann durch die Straßen geht, ohne viel Rücksicht auf die Passanten und sehr von sich selbst überzeugt. Natürlich ist da Bittersweet Symphony gemeint, in dem The Verves Richard Ashcroft durch die Hoxton Street in London spaziert, stolz und grüblerisch, frisch frisiert und mit glänzender Lederjacke.

Einen ganz ähnlichen Ansatz haben die Viagra Boys für den Clip zu Ain’t Nice gewählt. Auch hier ist der Frontmann der Protagonist, in diesem Fall Sebastian Murphy. Der Schauplatz ist seine Wahlheimat Stockholm. Doch schnell wird klar, dass es noch deutlich größere Unterschiede gibt: Der Hauptdarsteller ist hier nicht übercool, sondern offensichtlich nicht ganz auf der Höhe. Er geht gebückt in Jogginghose und Unterhemd, kotzt und spuckt. Vor allem aber ist er deutlich rücksichtsloser als das ästhetische Vorbild aus London: Er klaut einem kleinen Jungen seinen Roller, einem Spaziergänger seine Jacke, beinahe einem Opa sein Fahrrad, ein paar Kneipengängern ihr Bier, später wirft er sich in ein Picknick und zerstört so ein Rendezvous.

Das Video passt perfekt zur mentalen Ausgangssituation, den die 2015 gegründete schwedische Band für ihr heute erscheinendes drittes Album hatte. „Als wir diese Songs geschrieben haben, war ich gerade in einer Langzeitbeziehung, in der ich täglich Drogen genommen und mich wie ein Arschloch verhalten habe. Ich habe das nicht einmal bemerkt, bis es zu spät war. Ein wichtiges Thema der Platte ist deshalb die Erkenntnis, dass ich mir die falschen Ziele für mein Leben gesetzt hatte”, sagt Murphy. Der Sound zum erwähnten Ain’t Nice, das Welfare Jazz eröffnet, ist entsprechend ruppig und gemein, auch wenn man schon ahnt, dass das vermutlich alles mit einem erheblichen Augenzwinkern versehen ist. Diesen Effekt kann man auf dieser Platte regelmäßig entdecken. Toad klingt wie Stoner Rock mit tonnenweise Ironie, Secret Canine Agent ist düster und männlich wie beispielsweise The Cult oder Sisters Of Mercy, aber zwischendurch immer wieder gebrochen durch clevere Details.

Denn natürlich sind die Viagra Boys nicht zu Trübsalblasen übergegangen und Sebastian Murphy ist kein Trauerkloß geworden. Das ist noch immer eine Band, die Live-Chaos ebenso liebt wie schwarzen Humor. Ein Song wie Boys & Girls zeigt das als der vielleicht typischste Moment von Welfare Jazz: Es gibt in diesem Song etliche plumpe und wirkungsvolle Elemente, die mit einer guten Dosis Wahnsinn vermischt werden und irgendwo zwischen Dschingis Khan, Laid Back und Screamin’ Jay Hawkins landen. „Wenn ich Songs schreiben kann, stecken diese Gefühle nicht mehr in mir fest“, erklärt Murphy den reinigenden Effekt dieser Methode, die diesmal unter anderem mit Matt Sweeney (Bonnie “Prince” Billy, Run The Jewels), Justin und Jeremiah Raisen (Kim Gordon, Sky Ferreira) sowie Pelle Gunnerfeldt und Daniel Fagerström (The Hives, The Knife) als Mitstreiter umgesetzt wurde.

Beim Album-Abschluss In Spite Of Ourselves ist Amy Taylor von Amyl And The Sniffers als Duettpartnerin dabei, gemeinsam erschaffen sie eine spannende Interpretation des Songs von John Prine mit erstaunlich prominentem Beat. Into The Sun rückt mit kaputtem Bass und kaputter Stimme in die Nähe der Eels, auch I Feel Alive würde mit seinem trägen Beat, der verzerrten Gitarre und dem zynischen „Oh Jesus Christ, I feel alive“ zu ihnen passen. Creatures könnte man mit der Formel „Iggy Pop goes Disco“ zusammenfassen, im elektronisch geprägten To The Country kann man den eingangs erwähnten Ansatz am deutlichsten erkennen. „Du kannst nicht alles hinnehmen, was passiert und was du auslöst. Du musst dir Gedanken machen über die Konsequenzen deiner Handlungen und dabei immer weiter voran gehen“, sagt Murphy, und diese Erkenntnis könnte man ebenso wie diesen Song beinahe „erwachsen“ nennen, ebenso wie man daraus ein paar allgemeingültige Betrachtungen ableiten könnte. Als Weltverbesserer mit Protestsongs will Murphy aber natürlich nicht betrachtet werden: „Statt explizit politisch zu sein, schreibe ich lieber einen Song über eine Niederlage, die ich erlitten habe.Das ist normalerweise wahrhaftiger und sagt auch eine Menge aus.“

Auch Assis gehen gerne spazieren, zeigt das Video zu Ain’t Nice.

Wenn es wieder erlaubt ist, wird die Band im Frühjahr live in Deutschland zu erleben sein:

19.05. Leipzig – Conne Island
23.05. München – Technikum
24.05. Berlin – Festsaal Kreuzberg
25.05. Hamburg – Uebel & Gefährlich
30.05. Köln – Kantine

Website der Viagra Boys.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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